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25. ProfessBernad
Arzt und sein Priester gegenüberstehen, so brechen sie beileibe
nicht aus, sondern triefen von Toleranz, überbieten einander an
Edelmut, bereiten uns eine aesthetische Freude durch die Bereit¬
schaft ihrer Argumente, die Geschmeidigkeit ihres Esprits, die
vollendete Höflichkeit ihrer Umgangsformen. Der eine bezeichnet
nach zahlreichen Anläufen mit der christlichen Sanftmut, die
seinem Rocke ziemt, den andern als — also wirklich: als ver¬
messen. Wär' ers doch! Dieser Bernhardi ist nur primitiv. Wir
sehen, daß er Arzt und Jude und Wiener ist und zuerst protestiert,
zuletzt resigniert. Das ist alles. Der Mann hat seinen Beruf,
seine Abstammung und seine Wahlheimat — aber wo sind seine
Nerven? Er schreitet oder gleitet von einer schönen Würde zu
einer schönen Wurschtigkeit — aber wo sind die Züge seines
Wesens, durch die er uns trotzdem reizvoll würde. Was also ist
er? Ein Titelheld. Der Mittelpunkt — wenn auch nicht gerade
die Seele — eines ungemein geschickten Theaterstücks, das zwar
keine Längen hat, weil man ja von Anfang bis zu Ende diesem
spöttischen, kultivierten, funkelnden Gerede gespannt zuhört, das
aber von einer ungeheuern Länge ist, weil das Ergebnis den
Aufwand nicht lohnt. O, du mein Oesterreich! Du hast das
Glück (oder das Unglück), daß beine Ankläger deine Opfer sind.
Daß deine Satiriker, statt grimmig zu lachen, ironisch lächeln.
Daß sie witzig flackern, statt verzehrend zu flammen. Daß sie
statt aufschreckender Streitschriften beruhigende Theaterstücke ver¬
fassen, deren Gefährlichkeit du überschätzest, wenn du sie verbietest.
Aber so kam Berlin und das Kleine Theater zu der Urauf¬
führung, über die wenig zu sagen ist, wenn man nicht jedem der
zwanzig Darsteller besonders bescheinigen will, daß er seinen
Arzt, seinen Minister, seinen Hofrat, seinen Rechtsanwalt, seinen
Priester, seinen Journalisten, seine Krankenschwester ganz oder
nahezu vollkommen gestaltet hat. Höchstens ist Herr Bruno
Decardi herauszuheben: weil ihm vor ein paar Jahren im Lessing¬
theater offenbar Unrecht geschehen ist, und weil er die Klugheit,
Feinheit und Kraft fast aller seiner Kollegen in der größten Rolle
bewährte. Schnitzlers Stück ist wahrhaftig nichts weniger als
langweilig. Aber auch ein langweiliges Stück müßte seine
Schrecken durch den Regisseur verlieren, der hier eine solche Fülle
der Gesichter so belustigend von einander unterschieden hat.
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