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25. Professor Bernhardi
Lakaien der Masse.
* Wien, 25. Oktober 1919.
Die noch immer bestehende Wiener Zensur hat
kürzlich die Aufführung des symbolischen Dramas

„Ritualmord in Ungarn“ von Arnold Zweig mit
∆. der Motivierung verboten, dieses Werk sei geeignet,
in dieser bewegten Zeit Demonstrationen und un¬
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*
erwünschte Auseinandersetzungen hervorzurufen.
*
Später ließ sich die Behörde zu einem Kompromiß
A herbei, indem sie das Drama für geschlossene Vor¬
#stellungen freigab; sie konnte, insoferne sie dies
# nicht schon aus dem Buche erkannte, nun auf
offener Bühne sehen, daß es sich in diesem Falle
# um kein beliebiges Machwerk, sondern um eine
Owirklich einste, von einer sittlichen Idee getragene
AArbeit handelte, die der Oeffentlichkeit vorzuent¬
##halten nicht der geringste Grund vorlag. Sonder¬
barerweise ist es niemandem eingefallen, zu diesen:
UVerbot etwas zu sagen, obwohl sonst jede Theater¬
angelegenheit hier mit Behagen breitgetreten wird.
Man hätte doch zumindest fragen müssen, wessen
Gefühle mit diesem Verbot zu schützen sind und
würde vielleicht bei diesem Anlaß erfahren haben,
daß die Wiener Behörden mit der Eristenz von
Ritualmordpatrioten rechnen und deren Glauben
als einen Wert ansehen, dem staatlicher Schutz ge¬
bührt. Da niemand fragte, hat man es den Hütern
der republikanischen Ordnung leichter gemacht, als
ihren Vorgängern, den k. u. k. Amtsstellen, welch
beide allerdings, nur dem Namen nach verschieden,
im Denken und Sein identisch sind. Im alten
Oesterreich verbot man Stücke von der Art des
Arnold Zweigschen Dramas, weil jede Emotion,
die nicht dem üblichen Thema, dem Erotischen
entsprang, nicht erwünscht war. Darum verbo
man seinerzeit Arkur Schnitzlers männlichstes
Werk „Professor Bernar# als Zeitdoku.
ment des zum Tode vexurteilten Oesterreich nich
genug gewürdigt worden ist. Die republikanische
Regierung hat diesem Stück keine Schwierigkeiten
bereitet und der ungestörte Verlauf von fünfhundert
Aufführungen im Wiener Deutschen Volkstheater
beweist, daß es der neustaatlichen Ordnung nicht
geschadet hat. Allein, wenn der Grundsatz richtig
sein soll, daß der Staat die Pflicht hat, nicht ein
geistiges Werk vor den Exzessen einer niedrigen
Gesinnung, sondern jede niedrige Gesinnung vor
den geistigen Wirkungen eines Werkes zu schützen,
dann allerdings haben die alten k. u. k. Feder¬
suchser ihre Pappenheimer besser gekannt und
jedenfalls den richtigeren Instinkt gehabt, als sie
dem verehrten Publikum Schnitzlers Drama vor¬
enthielten. Denn wenn es auch in Wiens Intelli¬
genztheater ohne Störung die Bühne passieren
konnte, so hat es ein paar Kilometer weiter, in
Wiener=Neustadt, die berühmte „Volksseele“ kochen
gemacht, die in Gestalt von etlichen Hundert Stu¬
denten und ehrsamen Philistern das Theater fülli
und einen argen Krakehl provozierte, der heute
noch ein merkwürdiges Nachspiel hatte. Währent
des Theaterlärms war nämlich auch der sozialdemo.
kratische Vizebürgermeister Pyschler zugegen und
dieser schlichte Mann rief der tobenden Bürger¬
jugend von Wiener=Neustadt das Wörtchen „Laus¬
buben“ zu. Daraufhin beschlossen die Knaben
einen eintägigen Streik, was ihnen um so leichter
fiel, als der größte Teil der Professoren sich daran
beteiligte.
Die ganze Abwehr wäre höchst bedeutungskos,
wenn sie nicht mehr als ein kleines Kulturbildchen
T #n
aufzeigen würde. Es wäre eine Tauschung gröb¬
ster Art, zu meinen, daß politische oder stagtliche
Umwälzungen an dem geistigen Haarwickel gewisser
Schichten etwas zu ändern vermögen. Jener hohe
Zustand alter demokratischer Staaten, wo die an¬
dere Meinung gehört und geduldet wird, ist die
Frucht längerer Zeiten und eines regen öffent¬
lichen Geistes, er kann also nicht von einem Lande
erwartet werden, das nie selbst denken, sondern
stets nur zu gehorchen gelernt hat und nun auf
eigene Beine gestellt, weder gehen noch stehen kann.
Die bloß empfindende, nicht denkende Menge ist
unvermögend über ihre weitere Entwi#####.
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