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Theaterinteresse gewaltig abgenommen oder trifft beides zusam
men? So oft der verehrte Herausgeber der Allg. Ztg. ihren alten
Wiener Berichterstatter mahnt, wieder einmal über den Verlauf der
Spielzeit sich zu äußern, stell' ich mir diese Frage. Gewiß gibt es
nach wie vor Modestücke, die jeder gesehen haben soll (wobei „jeder“.
in unserer Millionenstadt einer unter Zehntausenden ist). Ebenso ge¬
wiß pebt es Theaterleiter, Theaterspieler, Theaterjünger, die wie
anno Laube oder noch höher hinauf anno Bäuerle die Bühne als
Um und Auf ihrer Lebensinteressen betrachten und behandeln.
Ebenso gewiß kommen immer wieder große Leistungen, neue Talente
und gediegene oder schwindlerische Neugestaltungen klassischer Werke
zum Vorschein, die auch den ernsteren Leser, den bequemer oder
bühnenfeindlicher gewordenen Berufskritiker aufrütteln, zur Mei¬
nungsäußerung anregen, aber die Glanzzeit des Altwiener Theater¬
betriebes halt' ich doch für versunken. Und angesichts der ungeheue¬
ren Wandlungen unseres politischen und technischen Lebens ist das
nicht durchaus beklagenswert. In meiner Kindheit war Döbling oder
Algemein
Grinzing ein Sommeraufenthalt, den man mit dem ganzen Hausrat
bezog. Heute ist das ein Stück Groß=Wien. Außer dem Hochadel
und wenigen Geldmagnaten übersiedelten nur Ausnahmsmenschen
für Monate und Monate nach Tirol, an die See, in die Schweiz.
Heute kann man zu Ostern oder Pfingsten nicht über die Straße,
ohne die vorwurfsvolle Frage zu hören: „Wie, Sie sind hier?
X. ist in Athen, Y. in Madeira. Zu Weihnachten trifft man mehr
jugendliche Stienthusiasten in Lilienfeld oder Sankt Moritz, als auf
dem Paradies des Burgtheaters. Gymnasiasten, die gleich Jacob
Minor Abend für Abend vom 15. September bis zum 15. Juli auf
der vierten Galerie des Hoftheaters Klassiker und modernes Schau¬
spiel, französische Lustspiele und deutsche Possen, etliche ein paar
dutzendmal, vornehmlich nur des musterhaften „Ensembles“ halber
sich auftischen lassen, sind längst nicht mehr vorhanden. An ihre
Stelle sind die Zöglinge der staatlichen und „wilden“ Schauspiel¬
schulen getreten, die lärmend ihrem Unmut oder Beifall Ausdruck
geben und mit Zuversicht hoffen, samt und sonders das große Los,
den lebenslänglichen Kontrakt mit 30,000 bis 50,000 Kronen zu ge¬
winnen, indessen die Statifuk dieses Berufes neunzig von Hunderten
immer traurigere Aussichten auf sichere Brotlosigkeit zeigt.
So lebt ein anders spielendes, ein anders richtendes Geschlecht.
Wer, wie der Schreiber dieser Zeilen, als elfjähriger Knabe anno
1863 die ersten Wiener Vorstellungen von Hebbels gehörntem Sieg¬
fried und Siegfrieds Tod mit der jungen Wolter (Ehriemhild), der
Frau des Dichters Christian Hebbel (Brünnhild), Joseph Wagner
(Siegfried), Hagen (Gabillon) mit ansah und 1913 zum 100. Jahres¬
tag der Geburt Hebbels im neuen Haus dieselben Texte von neuen
Leuten mitanhören sollte, verzichtet billig auf irgendeinen Urteils¬
spruch. Wir verstehen die heutigen Ausstattungsnarrheiten nicht.
Uns klingt der frühere Ton unverlierbar nach. Wir wollen bewußt
und sicherlich sogar unbewußt nicht dort mitgehen, wo uns der
Jugendeindruck ein Höchstes war und blieb. Für die großen tragi¬
schen Aufgaben sind, so glauben wir, seither so wenig Hebbel eben¬
bürtige Dramatiker, wie der Wolter und ihren Kameraden eben¬
bürtige Schauspieler nachgewachsen. Ehedem gab's bessere Schau¬
spieler und wohlfeilere, der Phantasie der Zuschauer bedürftigere,
darum nicht weniger wirksame Bühnenprospekte. Heute ... hat das
Burgtheater zweifellos wiederum außerordentliche neue Darsteller,
deren Begabung nur anderswo Siege verdient als in der Tragödie
hohen Stiles.
Charakterspieler, wie Heine und Treßler, Salondamen, wie
Frau Marberg, bringen es fertig, Konversationsstücke, wie Auern¬
heimers zahme Verspottung eines „Paares nach der Mode" oder Franz
Molnärs Trauerstück „Das Märchen vom Wolf“ als Erholung in
der Verdauungspause dutzend= und dutzendmal zu hohen Einnahmen
zu bringen. Daß Burg= und Deutsches Volkstheater beim besten
Willen nicht immer freiwillig zu solchen Zugstücken greifen, ist das
zweifelhafte Verdienst unserer Zensur. Sie verbietet Schnitzlers
Professor Bernhardi, der in München, sogar in Preßburg und Pest,
nur nicht in den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern
gegeben werden darf. Das ist heilloses Unrecht gegen den Dichter,
die Darsteller und die Theaterjünger: denn, wie immer man über
Wert oder Schwäche dieses Werkes denken mag — der Berichterstat¬
ter hat seine Freude an Schnitzlers Griff in die akademische, ärztliche
Welt —: mehr als alles andere, was heuer unsere Wiener Bühnen
an Neuigkeiten brachten, bedeutet es sicherlich. Und just dieses Werk,
das einen Fortschritt Schnitzlers bezeichnet und in Berlin Hunderte
von Vorstellungen erlebt, trifft in der Heimat des Dichters ein Ver¬
bot. Das ist mehr als verdrießlich. Das ist je eher, desto besser gut
zu machen durch den Widerruf dieser unbilligen, unzeitgemäßen
A. Bettelheim.
Polizeimaßnahme.

7.34 U
31 —
e Notizen
Prag, im Palace-Saal, am 4. März:
I. Aphorismen aus NachtseTitanie/Conrad von Hötzendorf;
Bitte, das ist mein Recht; Ein Satz; Wenn Herr Harden glaubt
Die neue Art des Schimpfens. II. Herbstzeitlosen oder Heimkehr
Hört, ihr Tauben!; Aufgewachsen bei
der Sieger (mit Vorwort). —
Weiße Frau und schwarzer Mann.
„Prager Tagblatt“, 5. März: -Karl Kraus und Adolf Loose.
(Ein Vortrag Loos hatte am 3. stattgefunden.)
Wien, im Großen Beethovensaal, am 10. März:
I. Hört, ihr Tauben!; Ein Freund unseres Blattes; Grüß Gott,
Doktor; Morgen jährt sich; Eine rhetorische Frage; Nicht auszudenken;
Der Schmock, das Talent und die Familie Rhythmus eines öster¬
reichischen Sommers. II. Fahrende Sänger /Titanic. III. Der Grubenhund;
Mitteilungen aus unterrichteten Kreisen Weiße Frau und schwarzer Mann.
Die nächste Wiener Vorlesung findet im Kleinen Musikvereins¬
saal am 16. April statt.
Auf viele Anfragen wird mitgeteilt, daß die Behauptung
von Buchhändlern, die Broschüren-Die demolierte Literature und
Eine Krone für Zions seien vergriffen, der Wahrheit entspricht
und daß eine Neuauflage nicht veranstaltet wird. Dagegen ist die
Angabe, daß auch die Schrift -Heine und die Folgen- vergriffen
sei, nur die Ausstreuung jener Kreise, die ein Interesse an der Unter¬
drückung dieses Essays haben, den sie mit Recht für gefährlicher
halten als alle antisemitische Heine-Kritik. -Heine und die Folgen¬
ist in dritter Auflage erschienen und wird mit -Nestroy und die
Nachwelte und den Aufsätzen über Strindberg, Altenberg, Wedekind
und Schnitzler zu einem Band vereinigt werden, dem sich Glossen¬
Bände, satirische und polemische Schriften und das so oft hinaus¬
geschobene Werk = Kultur und Presse: anschließen werden. Wann alle
diese Bücher erscheinen, ist aus bestimmten Gründen unbestimmt.
Geehrter Herr! Einige gebildete Leute sollen — wie mir erzählt
worden ist — in Ihrer Schnitzler-Glosse im Märzheft der Fackel eine
Unrichtigkeit entdeckt haben, die- ihneats freiwilligem Nichtwisser
zwar nicht als -Blamages, immerhin aber dort angekreidet werden
müsse, wo Sie fremde Grubenhunde feststellen. Sie zitieren die
Zeitungsschmockerei: er (Schnitzler) läßt -die Bühnenhandlung