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24.
bos 28/2
Das weite-Land
Berliner Tageblem
24 10. 107
——

M
1—.—
üblich ist im Balkangebirge, er hat kurz vorher sein Landgut um ein
Wiener Tagebuch.
„Was stellen Sie sich den
paar tausend Kronen verkauft, ist die Tage über in Schenken und
Verlegenheitspause.
(Von unserem Korrespondenten.)
Freudenhäusern gelegen, hat noch ein paar hundert Kronen in der
„Nun, was denn?“
(Nachdruck verboten.]
Rocktasche. Ein Balkanheld im Katzenjammer!.
So sehen doch
Endlich kommt eine Ante
Denke ich zurück an all das, was man in diesem Herbst „Ereigns“
nicht die Elendsrevolteure aus!“ Aber mein Russe behielt das schiefe
Reden so politische Revol
nennt, so sinken alle Theatervorstellungen, alle Klatschgeschichten, alle
Maul. denn eben jene Einmischung der gar nicht Betroffenen, die Mit¬
brüder“ im ganzen vierun
Feuilletonwichtigkeiten sofort in einen großen schwarzen Abgrund der
wirkung der Dégenerés, berührte ihn heimatlich. Ich mußte an
Unwesentlichkeit, und aus dem Halbdunkel der schon fast vergessenen
diesem Abend zu einer Operettenpremiere, das stimmt ja immer trist,
Dinge treten ein paar grelle, erregte Massenszenen ins scharfe Licht
Das gemütliche Wien vo
aber diesmal sah ich auch noch das grün=bleiche Gesicht meines Russen
exakter Erinnerung. Ich sehe noch immer das große Heerlager auf
Gestern hielten die Staat
vor mir und hörte seinen stillen Hohn: „Ihr russifiziert Euch“.
der Ringstraße vor mir, gerüstet, in starrer Linie, in der Sonne
haltserhöhung oder passive
blitzend, und davor Tausende ausgemergelte Vorstadtexistenzen, die
zusammen! Uebermorgen
Nein, wir russifizieren uns nicht! Der eine Rjegusch ist ein ver¬
sich vor Wut heiser schreien und icht glauben möllen, daß diese
frauen, denn das argentinis
irrter Serbe, der momentan zu Hause, in Montenegro oder Serbien,
Armee gegen sie ausgeschickt worden!. Das Bild, (or vier Wochen
bereit lag, mußte wieder abse
keine rechte Betätigung finden kann. Sonst absorbiert irgendein
Wirklichkeit, brennt im GedächtnisSeither stah die beiden Lager
eine Rede im Parlament, i
Balkan=Königsmord dergleichen Phantasien, und wir an der Donau
längst wieder aufgelöst, Soldaten mischen sich gemütlich ins Ge¬
zu viel Bedürfnisse haben.
haben Ruhl ... Es gibt einen deutlichen Beweis dafür, wie wenig
dränge, die Grenzlinien sind verwischt, dennsche=ich werde das Bild der
Auge behalten, wer seine
russifiziert wir sind. In den letzten Wochen ist in Wien in aller Stille
kriegsbelebten Ringstraße nicht los, icht fühle: es wird wiederkehren.
Winter liegt vor uns. Hu#
eine Art Ausnahmsgericht geschaffen worden, und es hat Strafen ge¬
Die Gemütlichkeit, die dieses Bild vesschleiern will, ist glatt und
klappernd vor Kälte, durch
geben, wie wir sie in Oesterreich seit zwanzig Jahren nicht erlebten.
stumpfinnig. Das alte Backhähndlwien lebt noch in ein paar Zeitungen
am Gürtel sollen Holzbarack
Weh dem, der in diesen Tagen eine Fensterscheibe zertrümmerte! Die unterkommen. Aber die St
voll Theaterwichtigkeiten, aber nur dort! Das wirkliche Wien be¬
Gerichte hatten sich plötzlich einen eigenen Revolutionstarif angeschafft,
steht aus zwei Lagern, den ausgemergelten Vorstadtmenschen, die gar
sagt: „Das ist Sache der E
wonach gebrochene Laternen mit gebrochenen Existenzen gefühnt wur¬
keine „Wiener“ im Sinne der Theatertinterln sind, sondern grad so
reichische Wort auf: „Negati
den. Die Wiener Revolte im September war eine große Aktion im
Proletarier wie ihre Genossen in Elberfeld=Barmen oder in Bochum
geht mich nichts an“.
Interesse der notleidenden Glaserer .
An Fensterscheiben und
oder in Prag oder in Lyon. Und die Säbel glänzen auf dem Wiener
Straßenlaternen erschöpfte sich der Ingrimm der Erregten. Keinem
Franzensring grad so wie in Belleville oder in Treptow, und die
Aber die Kunst, die uns
eleganten Herrn auf der Ringstraße wuxde auch nur der Zylinder
exakte Hab=acht=Stellung, die aufs Kommando harrt, ist so gut öster¬
9
verwischt! . .. Dennoch gab es furchtbare Urteile. Ein Jahr für eine
reichisch wie deutsch, wie französisch. Wir Feuilletonisten werden über¬
spielen s.,t ununterbrochen
zerschlagene Fensterscheibe, zwei Jahre für einen zum Schutz gegen
flüssig oder lächerlich.
Ich weiß schon: Schnitzler
die reitende Polizei erhobenen Stock, sechs Monate für eine gebrochene
*
seinen Gestalten wie dieser 2
Gaslaterne. Es sollten Exempel statuiert werden! Als ob die vier Er¬
Am Tage, da der Dalmatiner Njegusch Wawrak von der zweiten
lsch und nachdenklich! Sein „n
schossenen, die in der Ottakringer Erde ruhn, nicht Exempel genug
Galerie des Abgeordnetenhauses auf den Justizminister schoß, begeg¬
wären!
plizierten Menschen, in der L
nete ich einem jungen Russen. Seine dünnen Lippen verzogen sich zu
keit, Ehe neben Ehebruch
so was wie einem Lächeln, und sein grüngelber Teint rötete sich für
Schnitzler — chaotisch, gut.
Aus diesen Abschreckungsprozessen:
einen Moment. Er sagte spitz: „Ihr habt gehofft, daß Rußland sich
Weite bedrückend eng! Es ist
Ein junger Mensch ist angeklagt: „Hoch die Revolution!“ gerufen
europäisiert, hehehe, inzwischen . .. russifiziert Ihr Euch!“ Der stille
Tennis spielt!
zu haben.
Hohn ging auf die Nerven. Ich setzte mich hin und erklärte dem
Die Kunst, die entrückt.
„Sind Sie organisiert?“ fragt der Vorsitzende in allen diesen Pro¬
Manne mit den dünnen Lippen: „Sehen Sie denn nicht, wie falsch
Ein schwarzer, lichkloser 9#
zessen. Der Angeklagte, seit vier Wochen in Haft, antwortet offen:
Ihr scharfes Auge fieht! Da kommt ein junger Serbe aus seinem
„Nein.“
dalmatinischen Nest herauf. Er versteht fast kein Wort Deutsch, er
„Warum haben Sie denn „Hoch die Revolution“ gerufen?“
brinat noch den raschen Handgriff zur Waffe mit, wie das schon so
„I waß net.“