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(Quellenangabe ohne Gewähr).
mnitt aus: Osterreichische Rundsohau, Wie
I· MEHTTE
Feuilleton.
feld und Langmann haben die mit ihren
Schnitzlers Tragikomödie: „Das weite
ersten Werken erregten großen Hoffnungen
Land““
nicht erfüllt und Hermann Bahr hat sich
wohl mit seinen neuen Stücken starke Er¬
Von J. Minor.
folge geholt, aber seine älteren Dramen,
Von den Modernen der Neunzigerjahre
von denen die „Josephine“ neuerdings mit
ist Arthur Schnitzler der nicht als Drama¬
Recht wieber hervorgezogen wird, sind vom
tiker angefangen häf, sondern auf dem Um¬
Theater verschwunden. Schnitzler aber hat
weg über die Novelle und den Dialog zum
im vorigen Jahre auf dem Burgtheater nicht
Drama gekommen ist, heute allein noch auf
bloß einen literarischen, sondern auch einen
der Bühne lebendig. Ibsen ist nicht, wie
Kassenerfolg errungen, wie ihn seit seinem
man erwarten und wünschen konnte, zum
Bestande nicht einmal noch ein Tantiemen¬
Eckstein des deutschen Theaters geworden,
schinder erzielt hat, und gleichzeitig haben
Hauptmann hat seit längerer Zeit versagt,
sich seine „Anatol“=Dialoge auf dem
Holz und Schlaf und Sudermann haben es
Deutschen Volkstheater nach zwanzig
auch, als sie Wasser in ihren veristischen
Jahren in unverwelkter Frische wiederum
Wein zu schütten begannen, zu keinem dau¬
sehen lassen — zwanzig Jahre sind heut¬
ernden Erfolg mehr gebracht. Halbe, Hirsch¬
zutage schon eine lange Frist in unserer
Theaterzeit, die es dem Leben an Ge¬
Zum ersten Male aufgeführt Samstag, den 14. Ol¬
schwindigkeit noch zuvortut. Und gestern
tober. Buchausgabe bei S. Fischer, Berlin 1911. — Den
ersten Akt hat vor einem Jahre die „Österreichische Rund¬
hat seine neue Tragikomödie zugleich an
schau, Band XXV, Heft 1, veröffentlicht.
siebzehn deutschen und österreichischen Bühnen,
soweit wir davon unterrichtet sind, mit grö¬
ßeren oder geringeren Ehren bestanden,
während, wie nachträglich bekannt wird,
auch sein „Ruf des Lebens“ in Budapest
seine erste Aufführung fand. Schnitzler ist als
Dramatiker, wie die Franzosen sagen, an¬
gekommen, er steht auf der Höhe. Ob sein
neues Stück ein Meisterwerk ist, darüber
kann man sehr verschieden urteilen; daß es
aber ein Meisterstück in seiner Art, im Stile
Schnitzlers ist, das wird kaum jemand fort¬
leugnen können. Im wienerisch gefärbten
Dialog, in welchem Schnitzler eben doch die
Klaue des Löwen sehen läßt, kann man
es nur mit seinen eigenen Stücken vergleichen,
um zu erkennen, daß er sich darin auch
selbst noch übertreffen kann. Und niemals
ist es ihm als Dramatiker so vollkommen
gelungen, hinter der Handlung und hinter
den Personen zu verschwinden wie hier. Er
liefert eine blutige Satire auf die Gesell¬
schaft, vielmehr auf seine Gesellschaftskreise,
und doch fällt nur ein einziges Mal ein
direktes Wort der Anklage; er läßt die
Personen sich einfach vor uns ausleben,
wie sie sind und am Ende auch sein müssen,
und zuckt nicht mit einer Wimper dabei,
wodurch er uns seine Zustimmung oder seine
Abneigung verraten könnte. Freilich ist es
nur ein kleiner und Gott sei Dank nicht der
edelste und wichtigste Ausschnitt des Lebens
und der Gesellschaft, den er auf diese Weise
sich selbst parodieren läßt. Man kennt ja
zur Genüge aus seinen früheren Werken
diese Kreise, deren ganzes Denken und
Treiben sich um das dreht, was sie die Liebe
nennen, und denen doch nicht bloß die
Kraft zur Leidenschaft sondern auch zur
Empfindung fehlt, die nur mitunter noch
mit den Sinnen, meistens aber gar nur mit
den Nerven lieben können; am nächsten steht
dem „weiten Land“ der letzte Roman des
Dichters: „Der Weg ins Freie“ und es ist
gewiß kein Zufall, daß eine Nebenfigur,
der Demeter Stanzides, aus diesem in unserem
Stück wiederkehrt. Neue Menschen lernen
wir also eigentlich in dem neuen Stück nicht
kennen und von dem Banne seiner natür¬
lichen Beschränkung hat sich das Talent Schnitz¬
lers auch hier nicht frei gemacht. Höchstens
von einer Steigerung kann die Rede sein.
Denn so grell hat er seine Welt bisher doch
nicht gemalt und so bis zu den letzten Kon¬
sequenzen hat er ihr Tun und Treiben nicht
verfolgt: Eheleute, die sich lieben und be¬
trügen; Mütter, die auf die verheiratete Ge¬
liebte ihres Sohnes zugleich sehr gut und
sehr böse sind; Gegner, die im Duell auf¬
einander schießen und nicht einmal böse auf¬
einander sind; ein Mensch, der einer Mutter
den Sohn umgebracht hat und ihr dann ganz
ohne Zucken höhnisch die Hand reicht — es
wird uns nick leicht gemacht, diese Menschen
ganz moralt frei, jenseits von Gut und Böse,
weder ernst noch spaßhaft in tragikomischer
Stimmung zu betrachten. Es wird uns auch
nicht leicht, dieser Gesellschaft, deren ganzes
Tun und Lassen von den unberechenbarsten
Stimmungen und Nervenzuckungen abhängt,
auch nur ein gesprochenes Wort zu glauben,
denn sie lügen mit der Zunge natürlich noch
geläufiger als mit der Tat. Und da uns der
Dichter mit absichtlicher Kunst im Stiche
läßt, so stehen wir mitunter ganz ratlos
vor ihren Reden und Handlungen. Da wird
zum Beispiel gleich am Eingang mit ge¬
flissentlicher Betonung von einer Bergtour
erzählt, die der Held mit einem Freunde
unternommen hat und von der nur einer,
der Held nämlich, zurückgekehrt ist —? Wenn
wir dann später die heimliche Bestie in diesem
kennen lernen, dessen Hände mit brutalem
Tigergriff Frauen und Freunde umspannen,
denken wir unwillkürlich zurück und fragen
uns, ob hinter dieser Bergtour nicht auch viel¬
leicht etwas zu suchen und ob es da mit rechten
Dingen zugegangen sei? Denn wie die
Menschen so ist auch das Stück voll von
Angeln und Fußfallen; und nicht immer ist
die Ironie des Dichters so deutlich, wie bei
der Mutter, die sich ganz ahnungslos und
kurzsichtig in Vorwürfen gegen den Helden
ergeht, weil er ihre Tochter zu einer ge¬
fährlichen Bergtour verleitet hat, während
wir wissen, daß er die Tochter verführt hat;
oder bei dem gehörnten Ehemann, den sich der
Held dann bei dem Duell, das er sich gegen
den Schänder seiner eigenen Hausehre schul¬
dig zu sein glaubt, zum Zeugen ausbittet.
Um in den Kern der Tragikomödie zu
dringen, den der Titel mehr verhüllt als
andeutet, müssen wir diesesmal von einer
Episode den Ausgang nehmen, die mit der
Handlung nur durch Personalunion verbun¬
den ist und das Thema des Stückes eigent¬
lich nur wiederholt. Gleichviel, uns ist dieser
Doktor von Aigner trotzdem sehr willkommen,
weil er, ein schwacher Überrest des Räso¬
neurs der alten Komödie, uns in die Ge¬
danken des Dichters Einblick verschafft. Er
hat eine Schauspielerin zur Frau gehabt und
sie haben sich beide unendlich geliebt.
Dennoch hat er sie betrogen, mit einer nicht
bloß, sondern mit mehreren; er hat es für
seine Schuldigkeit betrachtet, es Ihr zu ge¬
stehen: um nicht feig zu erscheinen, vielleicht
auch (wie sein Mitunterredner einwirft, der
gleiche Erfahrungen gemacht hat) bloß aus
Affektion oder Raffinement oder Bequemlich¬