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Theater und Kunst.
Zum Konzertbeginn.
Das Musikvereinsgebäude eröffnet sich. Die Konzertsintflut
bricht los! An allen Ecken lockt und droht es mit Konzerten. Wien
fängt an, auch der Quantität des Dargebotenen nach eine musi¬
kalische Hauptstadt zu werden. Fieberhafte Tätigkeit überall. Ein
eifriger Wettbewerb steigert das Arbeitspensum, schraubt den künst¬
lerischen Maßstab höher, reizt und wirkt und bewahrt vor dem
bequemen Sichgehenlassen, dem Vater der Schlamperei. Es wäre
für den Musikfreund eine Lust, zu leben, wenn — ja wenn man
in diesem bunten Getriebe, in diesem hohen Einsatz geistiger und
materieller Mittel nicht Konsequenz, Disposition und feste Führung
vermißte.
Vor allem scheint es an einer gesunden Arbeitsteilung zu
fehlen. Statt daß die Häuptlinge, sagen wir: der Orchestervereini¬
gungen am Ende der Ferien zusammentreten und einander ihre
Programme vorlegen, bevor sie sie endgiltig veröffentlichen, mangelt
jede Fühlungnahme untereinander. Könnte man es sonst glauben,
daß so viele „Nummern“ auf den Programmen mehrerer
Symphoniekonzerte stehen, sich so oft in der Saison wiederholen?
Wir halten dicht vor dem Liszt=Jubiläum. Verstünde sich's da nicht
eigentlich von selbst, daß die drei Orchester in ihren halbhundert
Konzerten die symphonischen Werke des Großmeisters unter sich
aufteilen? Statt dessen beschränkt man sich auf wenige der gang¬
barsten Stücke und natürlich gibt es dabei zahlreiche Doubletten.
Nun wird man sagen, daß eben jeder Dirigent seine besondere
Auffassung zur Geltung bringen will und daß auch das nicht ohne
Interesse ist. Gewiß. Aber doch immer mit Maß. Uebrigens kommt
es ja diesmal darauf an, Liszts Bedeutung zu manifestieren, nicht
wahr? und nicht das besondere Ingenium des Kapellmeisters. Mit
seinem Plan, Liszt, den „König der Künstler“, zu feiern, hat sich
Wien nicht ausgezeichnet. Das ist ein schäbiges Erinnerungsalmosen,
keine herzhafte Ehrung eines Meisters, bei dem gerade
unsere Stadt viel nachzuholen und manch beschämende Schuld zu
sühnen hat. Wie immer die Zukunft über den Komponisten Liszt
urteilen wird: bei diesem Anlaß war der Moment gegeben, unserer
Generation ein möglichst vollständiges Bild seines Schaffens zu
vermitteln und damit zur Klärung des Urteils über ihn und die
einzelnen Werke beizutragen.
So ist es mit dem Jubilar der Saison. Wie steht es um
Bruckner? Ein kühner, hochverdienstlicher Schritt ist im vorigen
Winter getan worden. Löwe hat mit immensem Erfolg seine neun
Symphonien zyklisch hintereinander gebracht. Aber damit Schluß.
Jetzt glaubt man für Anton den Großen einstweilen genug getan
zu haben. I bewahre. Jetzt müßte der erzielte Erfolg erst aus¬
genützt, befestigt, vertieft werden. Indem etwa unsere Chorvereini¬
gungen ihrerseits sämtliche Vokalwerke in einer Saison über¬
nähmen. Fällt aber keinem ein. In den Symphonieabenden erscheint
Bruckner dreimal. Aber zwei dieser Aufführungen betreffen die
gleiche VII. Symphonie..
So sieht unsere Konzertpolitik aus!
Einzig die Totenfeier für Gustav Mahler entspricht einiger¬
maßen dem, was erforderlich ist per festeggiare il sovvenire d'un
grand’ uomo. Auch vor diese Aufgabe haben die Götter natürlich
den Schweiß gesetzt. Aber er wird nicht vergebens fließen und wir,
die den langen Reigen der Mahlerschen Werke vorüberziehen ge¬
sehen haben werden, dürften ein viel gründlicheres, gerechteres
Urteil über die Gesamterscheinung dieses Künstlers nach Hause
tragen.
Der ideale Zustand wäre wohl der, daß innerhalb eines
Zeitabschnittes von etwa fünf Jahren alle Hauptwerke der großen
Meister mindestens einmal zur Vorführung kommen. Diesem Zu¬
stande könnten wir uns ohne viele Schwierigkeiten nähern, wenn
nicht jede Körperschaft ganz auf eigene Faust sich die Aufgaben
setzte menn nur etwas Zusammenhang, etwas Verständigung unter
Text, gewinnt er ihm doch mühelos alle Spasse ab und hat nebenbei
noch für jede Gestalt ein paar komische Spezialeinfälle. Dann
ist noch Herr Kirschner Nestroy=Format und Frau Thaller.
Aber sonst kommen Behendigkeit und leichter Witz dieses Stückes, das
deutlich französische Herkunft zeigt, recht schlecht weg. Auch Nestroy
verträgt eine zweite Besetzung. Die „Früheren Verhältnisse“ entschädigen
wieder. Hier spielt neben Thallers reizendem Muffl Herr
Russeck und Frau Glöckner, die in so drastischen, mehr
körperlichen Humor heischenden Rollen immer ausgezeichnet ist.
g.
(Theater in der Josefstadt.) Die Wiener Vorstellung
von Reinhardts verschönerter Helena hat jetzt ihren Paris und
Kalchas verloren, die schlecht ersetzt sind, aber an Ilona Haydu
von der Budapester Oper eine stimmlich und darstellerisch — soweit
der ungarische Sprechakzeut nicht stört — vollendete Helena
gewonnen. Ueber die Gesamtvorstellung braucht nicht mehr gesagt zu.
werden, als daß ein Willi Bauer (der Ersatzvaris) aus ihr heraus¬
fällt, wie ein Element von roherer Kultur aus einer verseinerten
Gesellschaft; und in der Wiener Normaloperette ist Willi Bauer
doch einer der Besten. Max Reinhardts Wiener Freunde wissen gar¬
nicht, wie Unrecht sie ihm tun, wenn sie sich über die kritischen Ein¬
wände gegen seine Helena=Inszenierung beschweren. Jeder Tadel
dieser Vorstellung gilt doch nur dem, was ein Reinhardt in ihr
vermissen läßt; was man bei keinem anderen vermissen kann, von
dem mans nie verlangt hätte. Großes braucht große Maßstäbe.
Gemessen an Leistungen Reinhardts, die der Bühnengeschichte für
immer angehören, hat die Neinhardtsche Helena offenbare Mängel..
Aber wenn mit Meilhac=Helévy und Offenbach ein Reinhardt zu¬
sammenkommt, so muß auch die ungünstige Verbindung zwischen
ihnen etwas ergeben, womit niemand die gemeinsamen Produkte
der landläufigen Operettendarstellung zu vergleichen sich erdreisten
wird.
Fr.
7100 Aus der Theaterwelt.
Zuv Erstaufführung von Schn###Tragikomödie „Das weite Land“
i Burgtheater. — Die letzten Proben. — Der literarische Hotel¬
tier. — Wen Dr. Schnitzler hinter dem „Hoteldirektor Dr. Aigner“.
sich dachte. — Reminiszenzen an Dr. Christomannos. —
Hart¬
manns letzte Rolle. — Aus einem Zwischenakt im Johann Strau߬
Theater.)
Auf der Bühne des Burgtheaters hat man gestern er¬
leichtert aufgeatmet, als sich der Vorhang zum letzten Male über den
Schauplatz von Artur Schnitzlers Tragikomödie „Das weite Land“.
senkte. Nicht etwa, daß man Befürchtungen wegen der Aufnahme der
Neuheit gehegt hätte: Im Gegenteil — alles war davon überzeugt, es
werde ein schöner, ein erfreulicher Burgtheaterabend werden, ein Erfolg.
Aber wie schwer war allen, die da mittaten, die Arbeit am Werke gewordene
wie schmerzlich empfanden sie die Mitleidslosigkeit des Schauspielerberufes,
des Theaters, das denen, die sich ihm ergeben, nicht einmal Zeit zum
Schmerz läßt, wenn einer plötzlich über Nacht aus ihrer Mitte gerissen
worden war, das gebieterisch fordert, zu tun, als ob man nicht gemerkt
hätte, wie der Sentenmann in nächster Nähe sein Eisen geschliffen
ein Geräusch, das durch Mark und Bein geht
— wie er das Werkzeng
befriedigt angelächelt, nachdem es so rasche verläßliche Arbeit geleistet..
Am Morgen, da die Nachricht vom Hinscheiden Ernst Hartmanns
im Burgtheater eintraf, standen die Damen und Herren, die in der
gestrigen Premiere vor das Publikum traten, zu einer der letzten
Proben auf der Szene versammelt. Viele, die meisten kamen
erst einige Minuten vor zehn Uhr. Wie mancher schrie auf, als er vom
Bühnenportier die schreckliche Nachricht erfuhr; zitternd kam man auf
die Bühne; allein die Probe mußte alsbald beginnen — ohne Hart¬
mann, der auf der gestrigen Probe noch den schönen, eleganten, allen
Frauen das Herz raubenden Hoteldirektor Dr. v. Aigner gegeben hatte.
Nota bene — wie alle empfanden, die neben und mit dem Künstler in
dem neuen Stücke wirkten, wäre dieser Dr. Aigner eine seiner köstlichsten
Gestalten geworden, klassisch und sein bis ins Detail. Die Probe konnte
nicht abgesagt werden — die Premiere stand vor der Tür. So begann
in denn zu arbeiten. Ein Inspizient, manchmal auch der Regisseur,
s die Sätze, die gestern noch aus Hartmanns Mund geflossen waren,
der brachte bloß das Stichwort — aber so oft die Damen eine andere
Stimme hörten als die des bewunderten Kollegen, dessen Auge über
Nacht erloschen war, gab es ein Schluchzen, das sich nicht unterdrücken
ließ. Der Zufall wollte es, daß gleich in der ersten Szene des Schnitzler¬
schen Stückes die Damen von einem Leichenbegängnis sprechen, das soeben
in Wien stattgefunden batte. Der Mann, von dessen Hinscheiden man
da sprach und die Umstände, unter denen er starb, konnten eigentlich
so ganz und gar nicht an den armen Hartmann erinnern oder an der
Schmerz, den die zurückbleibenden Kollegen und Kolleginnen gerade
empfanden. Aber es genügte, daß vom Friedhof gesprochen wurde um
von dem düsteren Himmel, der während der Leichenfeier geherrscht
vom schlechten Wetter, als man den Sarg hinabsenkte — und es genügte,
daß die Damen den Dialoa unterbrechen mußten und nicht weiterlbreche
gunten. —