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24. Das weiteLand
Königsberger Rartungscne Zu#
M7 10 1911
Im Lessingtheater und in einem Dutzend führender Thea¬
ter anderer Städte kam am Sonnabend gleichzeitig Arthur
Schnitzlers fünfaktige Tragikomödie „Das weite Land“ zur
ersten Aufführung, also zur gleichzeitigen Uraufführung; aber nur in
Wien selbst und Prag, wo man solche mit sauren Süßigkeiten gefüllte
Mehlspeise heimatlich würdigen kann, wurde es wirklich ein größerer
Erfolg. Die Berliner und nicht sie allein brachten nur mäßiges Be¬
hagen an dem viel zu langen, mit müden Geistreicheleien und gestrigen
Geistreichigkeiten übersäten, in seiner Linienführung künstlich ver¬
wickelten Salonstück auf, dessen ausdrucksloser Titel auf die unbe¬
grenzten Möglichkeiten hinweisen soll, die in der Seele des Men¬
schen neben einander Platz haben. Am Ende steht dann bei Schnitz¬
ler, weniger sicher im Leben selbst, irgend ein „dunkler Weg“ mit einem
stillen Weiher oder einer richtig geladenen Pistole, um dem vertändel¬
ten Dasein einen dekorativen Abschluß zu geben. Den Ehrentitel einer
„Tragikomödie“ verleiht die Theaterkunst nur selten und an aus¬
erwählte Könner, Schnitzlers rekapitulierende Bühnenneuheit wird
mit dieser Krone dramatischen Schaffens überhaupt nicht geschmückt:
werden; der sarkastisch unterhaltliche Autor, dem wir allerhand Dank
schulden, bekommt diesmal kaum ein Krönchen. Die neuesten Liebe¬
leien Schnitziers zeigen uns in einem wenig durchsichtigen Kunterbunt
Männer, die ihre Frauen betrügen, obwohl sie sie lieben, und Frauen,
die ihre Männer hintergehen, obwohl sie sie auch lieben. Verschie¬
dene Lebensalter treten sich dabei gegenüber, Aphorismen über Liebe
und Leben werden reichlich getauscht; unschuldige junge Musiker er¬
schießen sich, weil sie nicht ans Ziel kommen, glücklichere Fahnenjunker
werden im Duell niedergeknallt, man macht sich immer übers Kreuz
glücklich und unglücklich. Es ist schwierig, diese Irrungen und Wir¬
rungen nachzuerzählen und dabei in ihrem Wert und Unwert aufzu¬
dröseln. Im Mitkelakt nennt ein Hoteldirektor die Seele ein weites
Land; aber die Ritte hinein machen müde und spannen die Nerven
so wenig an, daß wir erheblich vor Schluß uns reichlich abgespannt
fühlen. Irene Triesch als eine dichtverschleierte Seele, die auf
ihren treulosen Mann entsagungsvoll so lange wartet, bis eines
Nachts — ein Fähnrich aus ihrem Fenster herausklettert, ist ein
Kunstgenuß für sich; als ihr Gatte, der Fabrikant Hofreiter, stattet
Heinz Monnard seinen interessanten Durchgänger, der sich an
Illusionen niemals verblutet, mit sicheren Linien aus. Hilde
Herterich als Erna ist in ihrer erotisch betonten Unschuld ebenso
unausgewickelt, wie die meisten übrigen Herrschaften: die Künstlerin
versucht ihr Mögliches. Alle guten Kräfte, wie Hans Marr und
Emanuel Reicher, Ilka Grüning und Mathilde
Sussin, Karl Forest und Bruno Ziener tragen das Stück
— in dem es auch einen amüsanten Akt in einem Dolomitenhotel
und sehr viel Tennisspiel gibt —, doch sie hoben es nicht auf die
Höhe eines wirklichen Erfolges.
Theodor Kappstein.
Sarudeussche Aägemeine Zeftung, üutia
R7 1 191I
m-I. Ein interessantes Romanproblem hat Arthur
Schnitzler in seiner Tragikomödie Das weite Land
dramatifch behandelt und mit logischer Strenge durchgeführt
bis zur Lösung. Soweit diese Lösung freilich die Form be¬
deutet, ist sie mißglückt. Darum hat es das Stück auch am
Sonnabend im Lessing=Theater bei einem rücksichts¬
vollen Publikum bloß zu einem Achtungserfolg für den
Dichter bringen können; nur nach dem dritten Aufzuge,
der durch die Schilderung des bunten Treibens in einem
großen Dolomitenhotel erheiterte, galt der stärkere Beifall auch
dem Werke. Fünf Akte hindurch sich ein Exempel ohne Quer¬
striche auf das festgesetzte Resultat hin abwickeln zu sehen und
dabei das peinliche Gefühl nicht loszuwerden, daß man durch
ein mißlungenes Drama um einen guten Roman gekommen
sei, gewährt keine volle Befriedigung. Ein virtuos geführter
Dialog, einige gelegentliche Schnitzlerische Bonmots, ein lebens¬
wahres Sittenbild aus der Wiener Gesellschaft mit den gut
charakterisierten Typen des nicht ganz einwandfreien Bankiers,
des Sportfexen, des österreichischen Oberleutnants, des Kaffee¬
hausdichters, der alten, im Salonleben verflachten Dame,
des jungen, liebestollen und abenteuerlustigen Mädchens, dieser
Gesellschaft scharf und doch liebenswürdig gekennzeichneten Wesens
prickelnde Mischung aus Leichtsinn, Oberflächlichkeit, Gleich¬
gültigkeit, Frivolität, Nonchalance und was sonst noch, bieten
einer Bühnendarstellung gewiß dankbare Aufgaben, bleiben
aber doch nur die dramatisch gefärbte Schale um
einen epischen Kern. Und sonderbar, die immerhin noch lebens¬
wahren Gestalten sind mehr oder weniger episodisch, wogegen
die eigentlichen Träger der Idee Marionetten in der Hand des
Dichters und konstruierte Scheinwesen bleiben müssen, wo sie
nicht Darsteller finden, die ihnen aus dem Reichtume der eigenen
Persönlichkeit ein genügendes Maß von Lebenswärme mitteilen
können. Im Lessing=Theater ist die Bedingung erfüllt.
Der Titel Das weite Land, wie eine der Hauptpersonen
des Stückes die menschliche Seele nennt, eröffnet eine weite
Perspektive. Aber Schnitzler umgrenzt ein Stück des weiten
Landes mit einem engen Kreise, auf dem wir zum Schlusse in
der Ferne den Ausgangspunkt wiedersehen: Sei er denn die
Untreue des Mannes in der Ehe.
Frauenliebe kann sie nie vergessen, und darum, eben weil
sie noch immer liebt, läßt sich die einmal betrogene Frau des
Doktors v. Aigner von ihrem Gatten scheiden. Sie widmet sich
der Kunst und der Erziehung ihres Sohnes. Ihr Gatte lebt fern
von ihr in den Dolomiten und beglückt das Gebirge mit
Hotels, Straßen, Bergpfaden und Schutzhütten. Gewiß muß
die geschiedene Frau zugeben, daß sie nicht gunig dertasfen u.
einsam ist, weil ihr der Sohn, ein Marinefähnrich, geblieben
ist. Aber wie lange wird sie ihn haben? Auch Söhne werden
Männer. Und was das heißt, hat sie erfahren. Im Manne
wird sie den Sohn verlieren. Auch ihre Freundin Genia
Hofreiter wird von ihrem Gatten betrogen, so eifersüchtig er
auch seine Frau liebt. Auch sie hat einen Sohn, einen
erst dreizehnjährigen Knaben, der ihr lange Zeit noch Ersatz
Fein könnte, wenn sie sich von ihrem Manne trennen würde.
Doch nicht so will sie den Treulosen strafen, dessen weites Herz
von neuem entflammt ist für eine junge Freundin des Hauses
Erna Wahl; Frau Genia ist eine weniger konventionelle
Natur, sie will einen andern Schritt tun als den üblichen, sie
will Revanche. Und sie revanchiert sich mit dem jungen
Marinefähnrich v. Aigner der schwergeprüften Freundin
Sohn, ehe er eine lange Seereise antritt. Hofreiter
aber der unvermutet von einem Ausfluge zurückkehrt,
entdeckt den Treubruch seiner Frau. Eitelkeit und Eifersucht
treiben ihn zum Aeußersten. Er will nicht der Dumme sein,
er duldet keinen neben sich. In einer Gesellschaft beleidigt er
den jungen Rivalen; es kommt zum Zweikampf, und der be¬
trogene Ehemann schießt den Fähnrich brutal nieder. Nichts
kann Genia nun noch an des Gatten Seite halten, selbst nicht
die Heimkehr ihres lang entbehrten Kindes; sie verläßt voll
Abscheu das Haus. Jetzt, wo alles für ihn aus ist,
zerreißt Hofreiter auch das Band, das ihn an Erna
fesselt. Ihre Liebe ist bereit, ihm überallhin zu folgen;
seine Liebe aber gehört nur einer, und die hat er verloren.
Noch steht er gebückt unter der Last des Unerwarteten, da ruft
der heimgekehrte Sohn vom Garten draußen „Mutter!“
Schmerzlich zuckt er zusammen; als aber der Knabe nun auch
„Vater“ ruft, stürzt er hinaus dem Sohne entgegen, aus dem
auch einmal ein Mann werden wird. Der Kreis schließt sich.
Irene Triesch verlieh der Genia alles, was sie ihr
von Eigenem geben konnte, um eine glaubhafte Gestalt von
Fleisch und Blut zu schaffen. Sie gab ihr mit stiller Melancholie
und leiser, vornehmer Schen den Stempel inneren Leibens,
legte um ihre nervös beobachtenden Augen einen Strich von,
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10
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