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WO
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24. Das „110 L
S

einem andern. Ein anderer liebt seine Frau
zu seiner zersetzenden Beobachtungsgabe in cro¬
aller Vergröberung dramatisch doch so un¬
zärtlich, was ihn aber doch nicht abhält, sich
ticis eine Anmut in der Wortführung verliehen,
wirksam gebliebene Textdichtung, die den Kom¬
in fremde Liebesbande zu begeben, überdies
die ihresgleichen sucht. Leichtfüßig wie seine Ge¬
ponisten natürlich lähmen mußte, trägt einen
zwingt ihn seine Wahrheitsliebe, den Abstecher
schichtchen, jenseit von Gut und Böse wie seine
Teil der Schuld, aber das größere Defizit ist
seiner Frau mitzuteilen. Ein Bankier sieht mit
Herrchen und Dämchen, die in verschwiegenen
in der Musik festzustellen. Die Einstudierung
zu, wie seine Gattin, als ob es so sein müßte,
Chambre separtes „nachtmahlen“
Wiener
der Oper, die einstmals von Gustav Mahler
von einem der Freunde zum andern wandelt,
scherzen, plänkeln, philosophieren und lieben,
geleitet wurde, daß sie ihm die Protektion
scheinbar ohne sich je über ihr Treiben ganz
hauptsächlich das letztere, sind auch seine gra¬
Goldmarks und damit zugleich den Direktions¬
klar zu werden. Kurz, es ist ein wahres Durch¬
ziösen Dialoge. E
ein Meister des fein¬
fessel in der Wiener Hofoper einbrachte, hatte
einander von Liebeleien leichten und ernsten
geschliffenen und pointierten Stils. Mit einer
Herr Kapellmeister Sel
rg übernommen.
Charakters, ein Gartenbeet, um keinen anderen
Leichtigkeit, die sich nur noch bei den geschickte¬
Er ist sicherlich kein zweiter Mahler, das zeigte
Ausdruck zu gebrauchen, das die seltsamsten Ge¬
sten Franzosen vorfindet, gleitet der Wiener über
sich schon beim Vorspiel, aber immerhin muß
wächse sprießen läßt. Jedes einzelne ist vom
die schlüpfrigsten und gewagtesten Situationen
man rückhaltslos anerkennen, daß es seiner
Er hat sich
Dichter mit Sorgfalt behandelt.
und Gespräche hinweg, ohne zu verhüllen und
Gewandtheit gelang, eine vorwiegend saubere
in
Widersprüche aufzuzeigen,
die
bemüht,
ohne zu Zweidentigkeiten seine Zuflucht zu
und korrekte Wiedergabe des Werkes auf die
bewegen
denen alle diese Menschen
sich
nehmen. Man tut ihm übrigens Unrecht, wenn
Bühne zu bringen. Um die Ausführung der
oder in denen sie von einer höheren Macht,
man ihn mit irgend einem der französischen
gesanglich dankbaren Hauptrollen machten sich
d
nach Schnitzler mit dem
der Natur,
Meister des Stils vergleicht, Schnitzler bedeutet
el und Herr vom
scheer=C
Frau Fl
Chaos identisch ist, bewegt werden. Der Held
mehr als sie, er ist nicht bloß der Causeur,
Scheidt besenders verdient. Höchst amüsant
ein absolut polygam veranlagter Mensch, der
ist in Wahrheit der lachende Philosoph, er ist
wirkte der Aeckletan des Herrn Lohfing,
darüber verzweifeln will, daß einer seiner
May
der Psycholog, der nicht nur unterhält, sondern
während „räulein Lehmann als
Freunde aus Liebe zu seiner Frau den Tod ge¬
auch immer etwas zu sagen hat und durch seine
einen mmnig glücklichen und Herr Hochheim
sucht hat, und der es der Gattin beinahe zum
verblüffenden Wahrheiten und Offenheiten zum
als Kuard einen ausgesprochen unglückichen
Vorwurf macht, daß sie jenen „in den Tod ge¬
Nachdenken anregt. Sicher ist jedoch auch dies,
I. Ch.
Ab zu haben schienen.
trieben“ hat, knallt einen anderen Freund nieder,
daß viele Schnitzlersche Dichtungen ohne die
weil er das erreicht hatte, was dem andern
Grazie, mit der sie vorgetragen werden, un¬
nicht gelungen war. Und zwar greift der Gatte
genießbar blieben. Jede Plumpheit müßte ihnen
in einem Augenblick zum Revolver, der ihn selbst
verderblich werden, sie sind ganz auf den leich¬
Das weite Land.
untreu vorfindet. „Andere sind vielleicht an¬
ten Ton eingestellt, den Schnitzler sich geschaffen
Deutsches Schauspielhaus.
ders, ich bin amal so.“ Jeder Mensch eine Welt
hat, und der das vorstechendste Merkmal seiner
für sich. Es wäre schwer, eine geschlossene
Muse ist.
Die ganze dichterische Produktion Schnitz¬
Ordnung in dieses dramatische Gebilde zu brin¬
lers läßt sich in bezug auf ihren geistigen Ge¬
Auch die neue Tragikomödie „Das weite
gen. Aus diesen Streiflichtern geht aber schon
halt in eine Art naturwissenschaftlicher Formel
Land“, die am letzten Sonnabend auch im
hervor, welcher Kunst es bedurft hat, um einen
bringen. Sie lautet etwa so: befreit den Men¬
Deutschen Schauspielhause eine
solchen Stoff nicht abschreckend wirken zu lassen.
schen von dem dünnen Lack einer aufgezwunge¬
ihrer Uraufführungen erlebte, ist ein echter Schnitz¬
Schnitzlers Hand war in dem Aufbau seines
nen Kultur und ihr findet das Herdentier mit
ler, wenngleich diese Arbeit keineswegs zu den
allen Instinkten eines solchen; der Mann mehr
neuen Stückes nicht ganz glücklich. Die Stim¬
besten Werken des Dichters gehört. Alle Licht¬
polygam, das Weib mehr monogam veranlagt,
mungen wechseln zu häufig. Auch haben die
und Schattenseiten Schnitzlers finden sich hier
beide in ihrem Liebesleben von Natur aus ohne
unlogischen Handlungen der Menschen dann
gehäuft, aber nicht ausgeglichen; zudem läßt
und wann etwas Gewaltsames, Naturfremdes.
Treue, ohne Beständigkeit, ohne Wahrhaftig¬
die Technik des Stückes, früheren Leistungen
Die Frau, die mit Emphase bemerkt, „um mich
keit, und immer, bewußt oder unbewußt, auf
gegenüber, sehr zu wünschen übrig. Schnitzler
Der
muß man lange werben“, ergibt sich eine Stunde
der Suche nach neuen Sensationen.
bietet diesmal kein festes dramatisches Gefüge,
später irgendeinem jungen Laffen. Dazu genügt
Drang, immer wieder den reinen Triebmenschen
er würfelt vor unseren Augen eine Reihe von
kein plötzlicher Affekt. Der Mann, dessen gan¬
darzustellen, ist so stark in Schnitzler, daß man
Menschen durcheinander, von denen nur ein ein¬
zes Leben eine Kette von untreuen Handlungen
in seinen Dramen und Novellen nur selten zu
ziger einen festen Halt im Leben gewonnen zu
ist, schießt den Liebhaber seiner Frau nieder,
erkennen vermag, wie der Mensch in Millionen
haben scheint, alle anderen werden fast ganz
nachdem er selbst sie hineingetrieben hat. Auch
von Individuen seiner Gattung längst aus dem
von ihrem Liebesleben beherrscht und taumeln
die szenischen Stimmungen schwanken allzu sehr
Tier herausgewachsen ist und es gelernt hat,
willenlos hin und her. Schnitzler bemüht sich,
hin und her. Drama, Schwank, Lustspiel und
seine Neigungen und Sehnsüchte mit dem Ver¬
vor unsern Augen in die Seelen dieser Menschen
schließlich Tragödie wechseln mit einander ab.
stand zu beherrschen. Wo dann diese „sittlichen“
hinabzuleuchten, denn „das weite Land“, das
Die Technik ist auffallend nachlässig, zuweilen
Menschen in Schnitzlerschen Dichtungen dennoch
ist eben die Menschenseele, die noch kein Wande¬
in modernem Sinne ganz unmöglich. Während
auftreten, gleichen sie merkwürdigerweise Trot¬
rer der Philosophie ganz durchmessen hat. Er
im Vordergrund minutenlange Gespräche ge¬
teln und Sonderlingen, weil sie von der anders¬
will zeigen, wie viele einander widersprechenden
führt werden, stehen hinten sechs, sieben Per¬
gearteten Umgebung allzu sehr abstechen, oder
Leidenschaften, Sehnsüchte, Gefühle, Affekte und
sonen in stummem Gespräch, gleichsam als leben¬
weil sie von der absoluten Mehrheit der Trieb¬
Regungen hier nebeneinander Platz haben und
des Bild. Der erste Akt mit seiner Entwicklung
menschen erdrückt werden. Schnitzler ist der
daß man den Menschen, dieses komplizierteste
wirkt sehr spannend, der zweite bringt zweifel¬
Liebespsycholog in der zeitgenössischen deutschen
aller Wesen, eben so nehmen muß, wie es i
t,
los noch eine Steigerung, aber der dritte, der
Dichtung, es ist ihm nicht möglich, das Welt¬
nicht wie die Moralisten es haben möchten. Um
in einem Gebirgshotel spielt, fällt, so amüsant
getriebe anders als nur unter einem erotischen
zu seinem Ziele zu gelangen, hat der Dichter
und interessant er auch ist, ganz aus dem Rah¬
Gesichtswinkel zu sehen. Dabei ist er ein haar¬
die Probleme nur allzu sehr gehäuft, er führt
men.
ist in einer ganz anderen Stilart ge¬
scharfer Beobachter, nur wer die Augen absicht¬
uns einen wahren Sumpf vor, der mit bunten,
schrieben und wirkt unorganisch. Die beiden
lich schließt, wird leugnen, daß er die Wahrheit
üppig wuchernden Blumen besponnen ist. Kein
letzten Akte wandeln das Stück, ganz wider jedes
schreibt. Die Menschen, die Schnitzler so unver¬
einziges Geschöpf dieses Dramas ist so ganz
Erwarten, zur Tragödie. Das Stück verdient
hüllt in all ihren Lüsten und in all ihrem wider¬
eigentlich „intakt“ oder handelt nach den Ein¬
seinen tiefen Titel nicht ganz, aus dem weiten
spruchsvollen Treiben vorführt, sind ohne Aus¬
gebungen der Vernunft, alle lassen sich ganz
Lande der Seele hat Schnitzler uns allzu viel
nahme Wesen von unserm Fleisch und Blut, nur
und gar von ihren Gelüsten treiben. Dadurch
Gestrüpp vorgeführt, keine starken, gewaltigen
verschweigt der Dichter meistens, daß ihnen un¬
erhält das ganze Stück einen ungesunden An¬
Bäume, keine dunklen Geheimnisse, nur un¬
wenn man will,
gezählte Mengen „anders“
strich, und da auch einzelnen Teilen der Dich¬
gehemmte tierische Triebe. Gestrüppartig ist
„besser“ geartete, fortgeschrittenere Individuen
tung die gewohnte Grazie fehlt, gibt es Par¬
auch der ganze Charakter des Stückes geblieben.
gegenüberstehen. Die Schnitzlerschen Dichtungen
tien, die brutal wirken. Geht man den Zettel
Herr Direktor Hagemann hatte das schwierige
sind also nicht ganz als Kulturbilder aufzufassen,
durch, so findet man außer einem auf einsamer
sie sind einseitige Ausschnitte aus dem Leben
Stück mit aller Diskretion herausgebracht. Eine
Höhe wandelnden Arzt auch nicht eine einzige
der Gegenwart, und wenn sie auch viele abso¬
große Regiearbeit ist sicherlich nötig gewesen,
Hauptperson ohne dunkle Punkte. Der Held
um alle Härten abzuschleifen und den ganzen
lute Wahrheiten in bezug auf das Seelenleben
hält es mit allen Frauen, nur die Pausen zwi¬
Umkreis des Werkes einigermaßen einheitlich zu
des Menschen enthalten, so fehlt ihnen doch zu
mit
schen der einen und der andern füllt er
ganzen und lehrhaften Lebensbildern das
gestalten. Sehr bestechend war das szenische
den Dingen aus, die das Leben sonst noch
Gegengewicht, der Ausgleich nach allen Seiten.
Bild der ersten beiden Akte und das des letzten
bietet, seine Frau scherzt mit dem einen Freunde
Bildes mit dem Ausblick in die Szenerie der
des Mannes so lange, bis jener aus unglück¬
Schnitzler hätte nie seine großen berechtig¬
licher Liebe Selbstmord begeht, und ergibt sich ersten Aufzüge. Den eigentlichen Helden der
ten Erfolge errungen, hätte die Natur ihm nicht
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