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24. Das weite Land
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densein, Wirken und Gewirktwerden der Seelen, das dünkt ihnen Leben,
da das Sein selbst ihnen zurückblieb im verlassenen Ich. Mörderisch —
kein anderes Wort will für diesen unergründlichen Vorgang der Selbst¬
entäußerung passen. Gustav Wahl sagt im „Weiten Land“ den Dichtern
(merkwürdigerweise ganz im Jargon Hermann Bahrs!): „Das sind Un¬
menschen. Sie frei herumrennen lassen, das ist ja ein Blödsinn.“ Ein
Querstand in der Symphonie des Menschenlebens ist es gewiß. Man
spricht mit ihnen, und sie antworten, aber zugleich sehen sie innerlich sich
und ihr Gegenüber in andern Szenen, ergrübeln ihr Werden und Wollen;
und treffen so oft tief in das, was die Selbstlebenden als Wirklichkeit
empfinden. Sie sagen einem Enttäuschungen, Wünsche, geheime Lust und
Qual zu auf den Kopf. Und wenn sie dichten, so zeigen sie dem Empfan¬
genden nicht nur Bilder des Geschehens wie er sie sieht im Leben, sondern
auch die Heimlichkeiten mit, den Gespensterreigen, der im Hin und Wider
als dunkles Schattenspiel mit gegeben ist. So ist der dargebotene Anblick der
Seele nicht nur der des Alltags oder gesteigerter Kräfte, sondern hinter jeder
Regung dehnen sich deren Triebe und Beziehungen, dehnen sich dunkle und
helle Vorregungen und Nachregungen .. es „weitet“ sich das „Land“ der Seele.
Unangenehm ist es, ja peinigend grotesk kann es wirken, wenn ein
Dichter in Anführungzeichen dieses „selbstmörderische Erlebnis“ nicht
hat, seine Außerungform aber als willkommene Methode von einem
andern absieht und sie dann handhabt wie ein Orang=Utan ein Mikro¬
skop. Das heißt also, irgendein Beobachter des Lebens sieht auch allerlei
Hintergründe des Daseins und Unbewußtheiten im Seelenleben, aber er
kann sie nicht in ein einheitliches Geschehen gestalten wie Schnitzler, kann
sie überhaupt nicht gestalten, sondern zieht sie mit Entdeckerfreude hervor
und präsentiert sie, die Untermalungen sind, als das eigentliche Bild des
Lebens, das unterste zu oberst kehrend, das Ganze also verkehrend. Daß
der Anblick bestechend ist, fühlen sie instinktiv, er schmeichelt dem Über¬
legenheitbewußtsein, — wie unästhetisch er und das ganze Verfahren wirkt,
ist freilich allzu deutlich. Las man da etwa kürzlich einen Münchner
Roman von einem vielgenannten Wiener Autor, „Vision der lieben
Frau“ worin Malweibchen, Luxusdamen und ein begnadeter Künstler
durcheinandergeschicksalt waren. Und wie einfach waren die Erklärungen
alle, die dieser „Dichter“ aus der Stärke seines „zweiten Gesichts“ hinzu¬
brachte: Malweibchen? Jedenfalls durchaus mehr Weibchen, als
Malende. Eine stolze, hehre Frau? Nein, eine heimliche Dirne oberfläch¬
licher Natur! Und ein Künstler liebt so etwas? Weil er eben sein Ideal
hineinsieht, wie das die Künstler tun. Beweis? Unser „Dichter“ hat
einen genauen Beweisfall, den Fall Stauffer=Bern, dessen Dokumente er
sicherheithalber gleich wörtlich in seine „Dichtung“ hereingedruckt hat.
Man muß Erzeugnisse einer solchen Hilflosigkeit einmal in zehn, fünfzehn
Beispielen nacheinander lesen, um zu ermessen, welche Höhe die Meister¬
schaft eines Artur Schnitzler bedeutet. So tief sind seine Ein¬
sichten, daß selbst die Form Bahrscher Randglossen sie nicht entwertet,
und so sehr im Eigenton zittert es vom Grunde seiner „Tragikomödie“
herauf, daß sie fast gar kein Lächeln sondern tiefe Erregung hinterläßt, —
Furcht und Mitleid oder Furcht und Mitschau ins Unergründliche.
In seiner Welt, die man aus Prosa und Dramen kannte, hat sich
Schnitzler auch diesmal gehalten. Dieselbe Wiener Luft, in der es von
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