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23. Der Schleiender Bierrette
vem: Müithsl Aszeiger, Berlin
Theater und Musik.
Deutsches Opernhaus.
Ernst von Dohnányi, der als Pianist und Komponist der
Besuchern der Berliner Konzertsäle wohlbekannt ist, hatte gestein
zum ersten Male Gelegenheit, sich hier auf dramatischem Gebiet zu
zeigen, und zwar gleich mit zwei Werken: der dreiaktigen Pantomine
„Der Schleier der Pierrette“ und der einaktigen Oper „Tante
Simona“. Das bedeutendere, die Pantomime „Der Schleier der
Pierrette“, eine von Arthur Schnitzler—selbst vorgenommene
Ummodelung seines Schauspiels „Der Schleier der Beatrice"
das vor etwa zehn Jahren im Deutschen Theater unter
der Direktion Brahm aufgeführt wurde, ist bereits auswärts mit
Erfolg gegeben worden und fand auch gestern lebhafte und verdiente
Anerkennung. Pierrette, die mit dem alternden Arlechino verlobt
ist, stiehlt sich während einer Tanzfestlichkeit am Vorabend der
Hochzeit aus dem Kreise der Gäste und besucht heimlich ihren ge¬
liebten Pierrot. Sie wollen zusammen sterben, aber sie bringt den
Mut nicht auf, den Giftbecher, aus dem er bereits getrunken hat,
ihrerseits zu leeren.
Pierrot stirbt vor ihren Augen, und sie
eilt unter Zurücklassung ihres Schleiers
bestürzt davon.
In die Gesellschaft zurückgekehrt, wo der eifersüchtige, durch ihr langes
Ausbleiben rasend gewordene Arlechino sie argwöhnisch beobachtet,
glaubt sie überall die bleiche Gestalt des toten Pierrot zu sehen; der
vergessene Schleier fällt ihr ein, den sie um jeden Preis wieder haben
muß, und sie verschwindet abermals aus dem Kreise der Tanzenden.
Aber Arlechino ist ihr bis in die Wohnung Pierrots unbemerkt gefolgt,
wo der vergessene Schleier nun zum Verräter wird. In höchster Wut
schließt Arlechino die Geängstete allein mit der Leiche ein; bei Pierrette
bricht der Wahnsinn aus, und nach einem tollen Tanz sinkt sie zu
den Füßen des toten Pierrot sterbend nieder. Der Stoff, der Heiteres
und Grausiges, Tänzerisches und Schauspielerisches geschickt vereinigt
und die Handlung in großzügiger Weise nur auf einige Hauptmomente
beschränkt, eignet sich besonders gut für die pantomimische Darstellung.
Der Komponist Dohnänyi arbeitet hier auch mit den rechten Mitteln;
die Gegensätze sind gut gegeneinander abgewogen, die Musik weist
en nan
Farben= und Erfindungsreichtum sowohl in den Tänzen, unter denen
ein einschmeichelnder Walzer und ein hübsches Menuett Hervor¬
hebung verdienen,
wie
in
den dramatischen und tragischen
Momenten auf.
Eine vorzügliche Wiedergabe kam der Wir¬
kung des Werkes noch besonders zu statten. Für die Rolle der
Pierrette war die bekannte Schauspielerin Elsa Galafrés ge¬
wonnen worden, die ihrer Aufgabe darstellerisch in ergreifender
Weise gerecht wurde und auch
im Tanze viel natürliche
Anmut entfaltete. Einar Linden (Pierrot) und Edwin Heyer
(Arlechino) standen ihr ebenbürtig zur Seite. Innerhalb des
reizvollen szenischen Rahmens, den der Maler Gustav Wunderwald
für die Pantomime geschaffen hatte, kamen alle Einzelheiten der
Handlung, auch die von der Ballettmeisterin Mary Zimmermann ein¬
studierten Tänze, unter der geschickten Regie Dr. Hans Kaufmanns
eindringlich zur Geltung. Die musikalische Leitung hatte der
umsichtige und temperamentvolle Kapellmeister Krasselt.
Die
einaktige Oper „Tante Simona“ (Text von Viktor Heindel), mit
der der Abend eröffnet wurde, fand nur geteilten Beifall und dürfte
sich kaum eines längeren Bühnendaseins zu erfreuen haben. Der
Stoff, die Ueberlistung einer ehefeindlichen Tante durch ein Liebespaar
und die glückliche Vereinigung der Liebenden, ist gar zu unbedeutend, und
Dohnänyis Musik trifft für den leichtgewogenen Text nicht den rechten
Stil. Das Rüstzeug der Instrumentierung ist viel zu schwer geraten. Die
Stimmen der Sänger gingen im Orchesterschwall fast völlig unter, sodaß
das Gesungene den meisten Zuhörern unverständlich blieb. Das war
nicht die Schuld der Mitwirkenden, die durchweg gute Leistungen boten
und alles daran setzten, der Oper zum Siege zu verhelfen; es waren die
Damen Luise Marck, Eleanor Painter und Mizzi Fink, die Herren
Ernst Lehmann, Karl Waschmann, ein bemerkenswerter, bisher in
keiner lohnenden Aufgabe beschäftigter Tenor, und Eduard Kandl. —
Der Aufführung wohnten Ihre Königlichen Hoheiten der Prinz und
die Prinzessin August Wilhelm von Anfang bis zu Ende bei.
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Aussehnltt aus:
Aihend -chdschau, Berlie
Hus dem Kunstleben.
Deutsches Opernhaus: „Tante Simona“, „Der Schleier
der Pierrette.“
Der Komponist der beiden Stücke, E. v. Dohnanyi,
zeigt sich in der einaktigen Spieloper „Tante Simona“.
noch unterwegs auf der Suche zu seinem eigenen Stil. Er
versucht es mehrfach mit dem Tempo Figaro, aber der leichte,
schwebende Stil des alten musikalischen Lustspiels liegt ihm
nicht recht. In seiner Musik ist etwas Zähflüssiges, und erst
wenn das Tempo langsamer wird, kann sie wirklich ansetzen¬
und etwas Eigenes entwickeln. Die beiden Duette, das des jungen
und das des alten Liebespaares, dürften noch am ehesten zeigen,
nach welcher Richtung Dohnanyis Bühnentalent hinweist. Es
ist die lyrische Oper, in der ihm, brauchbare Texte vorausgesetzt,
wohl mancher glückliche Wurf zuzutrauen wäre. — Noch mehr
Experiment als das erste ist das zweite Stück, „Der Schleier
der Pierrette“ eine von Arthur Schnitzler ent¬
worfene Pantomime in drei Bildern. Mit bewährten Theäter¬
mitteln hat Schnitzler die Geschichte vom traurigen Pierrot ge¬
steigert zu einer tragischen. Pierrette will sich, zur Höchzeit
mit Arlechino gezwungen, mit dem geliebten Pierrot nach einem
Abschiedssouper (zu dem sie sich vom Hochzeitsfest wegstiehlt)
gemeinsam vergiften. Sie findet schließlich nicht den Mut
zur Tat, und nur Pierrot sinkt tot nieder. In der Erregung
läßt sie den Brautschleier liegen und flieht zurück zur Hoch¬
zeitsgesellschaft. Als sie den Schleier wiederholen, will, folgt
ihr der eifersüchtige Arlechino. Er schließt sie ein beim toten
Pierrot, vor dessen Leiche sie sich wahnsinnig tanzt. — Es läßt
sich nicht behaupten, daß Dohnanyi die hier mit recht krassen
Kulissenmitteln arbeitende Schwarz=Weiß=Technik Schnitzlers
daß das Nebeneinander dieser
wienerisch gutmütig,
Lannermusik neben veristisch wilden Tönen zu wenig
ausgeglichen erscheint. An guten Einfällen, namentlich
im Instrumentalen, fehlt es aber auch hier nicht, und die Um¬
deutung des Tanzes in der Wahnsinnsszene ist so wirksam ge¬
geben, daß man Dohnanyi nur wünschen kann, er möge einen
ihm wirklich angemessenen Text aufspüren. — „Die“ Rolle des
Stückes, Pierrette, war Frau Elsa Galafrés anvertraut.
Ihre Leistung war der Gewinn des Abends. Im Wahnsinns¬
tanz wußte sie dieser neuen Dinorah=Variante eine Glaub¬
haftigkeit zu verleihen, deren nur eine wirkliche Künstlernatur
fähig ist.
Willy Pastor.