Faksimile

Text

Sonntag, 8. Mai 1910.
Kunst, die sich scheu und keusch hütet, auch nur einen
spekulativen Seitenblick nach äußerlicher Künstelei zu
thun. Die Partitur trägt durchwegs jene persönliche
Note Dohnänyi's, zu der sich seine Tonsprache über
Schumann und Brahms hinaus, an Wagner und
den Modernsten vorbei differenzirt hat. Am edel¬
sten und wärmsten in den lyrischen Theilen, in
der Vermittlung zärtlichen Liebesglühens, der tiefen
Lebenssehnsucht, des wehmuthvollen Todesbangens,
überrascht Dohnänyi in den Tanzformen durch Schön¬
heit, Anmuth und Geist, die bis Schubert zurück,
bis Debussy hinaufführen. Gleich der entzückende
D dur =Walzer, mit dem die Freunde Pierrot's
Zimmer betreten, wiegt sich auf Rhythmen schuber¬
tischer Grazie jener in C, der hausbackenen
Biedermeiertonart, der zum zweiten Bild hinüber¬
führt, ist goldecht nachempfundener Johann Strauß,
authentisch bis auf den luftschnappenden Dreischlag,
der das Thema schließt; ein wenig banal, bis ihn
der Komponist in der Modulation nach Des zu ver¬
bindlichster Noblesse adelt. Ein bezauberndes Stück
ist das zärtlich sanfte Menuett mit seinen kichernden,
kosenden Variationen, ein kleines Meisterwerk vollends
die geistvoll=virtuose Schnellpolka in ihrer grausig¬
grotesken Kakophonie der verstimmten Instrumente,
ein danse macabre von unheimlicher Witzigkeit.
In dem rein deskriptiven Theil der Partitur offen¬
bart sich ein bescheidenes Maß von Origina¬
lität. Die symbolistischen Behelfe der Illustration
szenischer Vorgänge drängen sich kraft eines gewissen
Scheidemünzenkurses fast von selbst in die Feder,
und wenngleich die Phantasie des Komponisten
auch hier durch einen ungewöhnlichen Reichthum
kombinatorischer Erfindung überrascht, so läßt sich
doch auch nicht in Abrede stellen, daß er sich in
der Symbolistik der Situation vielfach auch äußer¬
licher, mehr schlecht als recht bewährter Behelfe be¬
dienen muß. Bei gleich hohem künstlerischen Werth
aller Theile der interessanten Tondichtung erscheint
doch das zweite Bild in seiner organischen Einheit¬
lichkeit, der dramatisch pulsirenden Aktion, der glück¬
lichen Kontrastirung der charakteristisch betonten Stim¬
mungen als der wirkungsvollste und anziehendste
Theil der Pantomime. Dagegen wurde das letzte Bild,
das in den Wahnsinnstanz der Pierrette mündet, recht
wohl eine ausgiebige Kürzung der musikalisch und
choreutisch monotonen Schlußszene erfordern.
Der Darstellung der Novität hatte man mit
umso lebhafterem Interesse entgegengesehen, als die
Hauptfiguren durch Künstler des Opernensembles
dargestellt wurden, und man überdies zum ersten
Male Gelegenheit hatte, Balletmeister Guerra auch
als Mimiker auf der Bühne zu sehen. Als Pierrette
überraschte Frau Szeyer durch ihre anmuthige,
leichte Bewezlichkeit, ir ausdrucksvolles Mienenspiel
und durch die von dramatischem Empfinden be¬
stimmte Aktion. Eine vortreffliche, scharf model¬
lirte Figur stellte Herr Kornay als Pierrot
auf die Bühne, und als Meister der stummen
Charakteristik erwies sich Herr Guerra in der
dämonisch umwitterten Gestalt des Arlecchino. Von
den Darstellern kleinerer Rollen gebührt ein Wort
warmen Lobes den Damen Mazzantini,
Kranner und Kaßtner, den Herren Brada,
Smeraldi und Hegedüs. Die Tanz¬
ensembles, die szenischen Gruppirungen, sowie die
gesammte Regie stellen dem organisatorischen Ta¬
lent des Balletmeisters Guerra ein neues glän¬
zendes Zeugniß aus. Mit ganz besonderer An¬
erkennung muß des Dirigenten Herrn Szikla
gedacht werden, der an seine schwierige Aufgabe
mit dem Temperament und dem Schwung des Ballet¬
kapellmeisters, aber auch mit einer Feinfühligkeit
herangetreten war, die geeignet erschien, auch die
tiefen, verborgeneren Schönheiten der künstlerischen
Partitur in Erscheinung treten zu lassen. Die Novität
erzielte in dem dichtbesetzten Hause einen durchschla¬
genden Erfolg, der in vielfachen stürmischen Hervor¬
rufen der Hauptdarsteller manifestirte.
V.
a