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MX HeilS
112. Jahr #
S
heren Zielen zustrebt, zeigt sich in der Geberde
vollendeten Exemplaren besitzt. (Sehr fein, wie
des Dichters, dem es nicht mehr genügt, Epi¬
er in der „Episode“ einen Moment lang ein
soden einzufangen und Kleines zu meistern und
Gefühl durchschimmern ließ.) Frl. Hannemann,
der weit ausholt, um die Tragik männigfacher
Frl. Reinau. Frau Glöckner, Frl. Müller und
Einzelschicksale in den übermenschlichen Raum
Fr. Galafrés bildeten eine Wiener Schönheits¬
einer historisch gewaltigen Zeit und in den
galerie, um die jede Bühne das Deutsche Volks¬
Schatten eines titanischen Eroberers zu stellen,
theater beneiden kann. Der Erfolg war ein
um von diesem drohenden Hintergrund die Kontu¬
rauschender und zwang den Dichter immer
renihrer Abhängigkeit voneinander, ihrer Zusam¬
wieder vors Publikum.
Otto König.
menhänge und Zusammenhanglosigkeit gegen¬
III.
einander und ihre Willensohnmacht dem Leben
Die törichte Jungfrau.
gegenüber zu zeichnen. Gleich geblieben ist die
Meisterschaft Schnitzlers, seinen Gestalten die
Die Menschen Henry Batailles tun immer
reliefartige Plastik blutvoller Wirklichkeit zu
das Unmögliche, aber sie tun es zuweilen auf
geben, daß jede einzelne uns wie ein Vertrauter
menschenmögliche und menschenergreifende Art.
oder zumindest ein oft Geahnter in den Weg
Ihre dickblütige Brutalität bedarf eines vierak¬
tritt. Diese fünf Szenen, die das Volkstheater
tigen Beweises, daß der Verlust des Weibes,
in einer nur mit höchster Anerkennung zu er¬
das um den geliebten Mann betrogen wird,
wähnenden Aufführung wiederbelebte und
schwerer wiege und bemitleidenswerter sei als
hoffentlich seinem Spielplan einverleiben wird,
der „Ehr“-Verlust einer förichten Jungfrau, die
haben im Laufe der Jahre nichts von ihrem
diesen Mann als Geliebten gewinnt. Dieses
betörenden Duft, nichts von der Schlagkraft
Weib, das in seiner himmlischen Dulderliebe
ihrer geistsprühenden Aperçus und Sentiments,
warten und entbehren kann, ist dichterisch
nichts von ihrem sinnlich-melodischen Klang¬
schön gedacht, aber es ist mit Bataillescher Roh¬
reiz verloren und nichts von ihrer flügelleichten
heit ins Spiel gestellt, indem es sich diese Hoff¬
Anmut eingebüßt. Vielleicht scheint es uns heute
nung auf Wiederkehr mit aufgehobenen Schwur¬
wirklich, als ob die Anatols auch bei uns, wo
fingern versichern läßt. Dem empfindenden
ihre Heimat ist, im Russterben begriffen wären.
Künstler schlüge solch ein Gegenüber die Worte
Ich gehöre nicht zu denen, die es wünschen
in die Kehle zurück, der kalt klügelnde Macher
und nicht zu denen, die den Amerikanismus
schreibt seinen Dialog und zimmert seine Szene.
in seiner nie Zeit habenden Geschäftigkeit und
Bataillesche Gestalten bringen sich immer in
stürmenden Host als das Erstrebenswerteste
willkürlich beabsichtigte Situationen, aus denen
betrachten. Wäre es nicht schade, wenn die
alle geschmackvollen Menschen davonliefen,
Ringstraße keinen Platz mehr für liebenswürdige
wenn ihnen ein böser Zufall ein ähnliches Zu¬
Flaneure, die süßen Mädeln keine Zeit mehr
sammentreffen bereitet hätte. Der Vater der
zur Liebe haben sollten? Es wird ja wohl doch
Betörten wendet sich nicht an den Verführer,
se kommen ... Aber wird dem einmal so,
sondern an seine betrogene Frau. Der Bruder
dann können diese meisterhaften Szenen ein
dieses Mädchens unterhandelt nicht mit dem
Mann über die Freigabe seiner Schwester, son¬
Stück Wiens lebendig werden lassen, das
unseren Enkeln die sehnsüchtigen Worte ent¬
dern mit dem Weibe dieses Mannes über die
Freigabe ihres Gatten. Er mietet sich in dem
locken mag: „Die schöne, alte Zeit ..
Zimmer neben dem Liebesnest der beiden Flücht¬
Herr Kramer, der auch als Spielleiter
linge ein, und die Theaterpistole, die für den
zeichnete, war Anatol, Kramers Regieleistung
Verführer geladen war, wird von der selbst¬
mörderischen Hand der Verführten losgeknallt;
verdient diesmal mehr Lob als seine schau¬
denn diese schlau gewitzte Achtzehnjährige er¬
spielerische, die man beim besten Willen nicht
kennt erst vor dem letzten Fallen der Kurtine,
interessant nennen kann. Gewiß, dieser Ana¬
was sie schon vor Beginn des ersten Vorhang¬
tol war ein sehr liebenswürdiger, sehr elegan¬
hebens hätte merken müssen: daß die feigung
ter Liebhaber und Charmeur — aber nicht mehr.
dieser Frau hundertmal mehr wert sei als
Und hier liegt der Denkfehler. Denn Anatol ist
ihre gierige Leidenschaft. Sie wird dem
ja in den freien Stunden, die ihm sein anstrengen¬
Autor zuliebe plößlich altruistisch gestimmt;
der Beruf eines ewig nach Liebe Jagenden läßt,
aber ein anderer, etwas menschenkundi¬
auch ein Dichter; diesen und die interessante
gerer Franzose hat die Liebe einmal definiert
Persönlichkeit, die allein verhindern kann, daß
wir in Anatol nichts als einen espritbegabten
als egoisme en deux. Es ist eine Lösung
Viveur sehen, blieb uns Herr Kramer schuldig.
faut de mienx, was gar keine Lösung wäre;
Herrn fackners Max hingegen war tadellos:
aber kein Taler ist besser als ein falscher,
denn dieses Geschenk ist ebenso wertlos und
ein überlegen-spöttischer Raisonneur, wie sie
unsere, an „Raunzern“ nicht arme Stadt in
erweckt noch den Arger, gefoppt zu sein. Frl.
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Marberg war die betrogene Märtyrerin. Die hat
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im Textbuch zwei schöne und mögliche Momente:
den einen, wie sie das Liebespaar vor der
Flucht überrascht und diese Flucht durch Zeit¬
verzögerung zu hindern sucht, den andern, wie
der Bruder Dianas ihr mit der Mordabsicht ge¬
droht hat und ihr nach seinem Abgang die
ganze Tiefe ihres Gefühles bewußt wird. Halb
erstaunt, fast kindlich erschrocken ruft die Mor¬
berg da: Wie ich ihn liebe! Mit dem Ton auf
dem Schlußwort. Und man spürt aus diesem
kleinmädchenhaften Erschrecken zugleich das
ganze Kommende heraus: den weiblich gefesteten
Willen, ihn zu schützen. Und früher, in der
Szene an der Schreibmaschine: der Mann im
Zimmer links, die Rivalin im Zimmer rechts
und sie mit dem Bruder der Rivalin in der
Mitte — da hatte sie einen jener Rugenblicke
des Transparenz-Gefühles: hinter gesellschaft¬
licher Höftichkeit verhaltene Herzensnot zu
spielen; und diese Rugenblicke sind das Größte
ihrer Künstlerschaft. Die Anderen waren nett!
(wie insbesondere Frl. Reinau), waren gefällig,
nicht störend oder ärgerlich banal wie Herr¬
Heding. Schwärmerische Mädchen auf der
Coierie brüllten „Klitsch“, aber das Echo des
Hauses dffte ihren sehnsüchtigen Schrei. „Kitsch.
H. w.
Kitscher
gen