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22. ber junge dardus
Zeitung: Norddeutsche Allgemeine Zeitung
Adresse: Berlin
Datum: 27 001. 1903
ab. Im Lessingtheater erlebte am Sonnabend „Der junge
eine dramatische Historie von Arthur
Medardus“,
Schnitzler, seine Erstaufführung, die dem anwesenden Dichter von
ausverkauftem Hause einen Achtungserfolg eintrug. Daß es nicht mehr
war, liegt teils an der ermüdenden Länge des Stuckes (fast fünfstündige
Spieldauer ei 14 maligem Szenenwechsel), teils an der Zersplitterung
des großen Grundgedankens und dem kraftlosen Hin= und Herschwanken
des Titelhelden zwischen starkem Wollen und schwächlichem Versagen.
Eine straffere, zielbewußtere Führung der Haupthandlung wurde
bei dem weltgeschichtlichen Hintergrunde der Zeit von 1809 und bei der
liebevollen Kleinmalerei Wiener Bürgerlebens zweifellos stärkstem
Erfolge begegnet sein. Denn an sich ist das Wechselspiel des Helden.
zwischen Vaterlandspflicht, Famllienrache und Liebesleidenschaft fast
überreich an dramatischer Wucht, nur eben allzu sehr verzettelt und
verästelt. Seinen Achtungserfolg hat der Dichter nicht zuletzt zu
verdanken der liebevollen Hingebung, mit der sich die Barnowskysche
Bühne feines Werkes annahm. In wunderhübschen Szenenbildern
kam alles Trauliche und Gemütliche Alt=Wiener Volkslebens, alle
Poesie junger Liebe und nächtlicher Schloßgartenromantik und alle
kriegerische Kraft der Soldatenszenen zu glücklichstem Ausdruck.
Unter den 60 Rollen des Stückes, bei dem die Spielleitung selbst
den meisten Nebenrollen dankenswerte Sorgfalt gewidmet hatte,
ragten außer dem Titelhelden (Theodor Loos), der freilich diese halt¬
lose, verschwommene Figur nicht lebenswahr genug gestalten konnte,
als besonders gutgelungene Verkörperungen ihrer Aufgaben besonders
hervor: Heinz Salfner in der prachtvollen Type des kernfesten,
aufrechten Bürgers Eschenbacher, Ilka Grünberg, die rührend schön
die schicksalverfolgte Mutter darstellte, Alfred Abel (Buchhändler
Karl Etzelt), Lina Lossen (die adelsstolze, dämonische Helene von
Valois), Friedrich Kayßler's männlich bedeutender General Rapp
und Kurt Goetz in seiner glänzenden Charakterisierung des „uralten
Herrn : Das Publikum rang sich trotz stellenweise auftretenden Pro¬
testes zu Beifall durch, für den der Dichter durch mehrfaches Erscheinen.
an der Rampe dankte.
Zeitung: Germanld (Abend-Ausgabe)
Adresse: Berlin
Datum:
Das Lessingtheater brachte am Samstag abend Arthur
Schnitzlers dramatische Historie „Der junge Medardus“ in Ber¬
lin zum ersten Male auf die Bühne. Vier Jahre alt ist das
Stück, ursprünglich wohl gedacht als ein Beitrag des Wiener
Dichters zu der Hundertjahrfeier von 1809, wo Oesterreich
seinen Krieg mit Napoleon führte, ohne dem großen Korsen
den entscheidenden Schlag beibringen zu können, den man im
Jahre 1806 versäumt hatte. Eine dramatische Historie nennt
sich das Stück, und es ist in der Tat ein Zeitbild voll
historischen Kolorits, ist dramatisierte Historie. Nur geht
Schnitzler mit der Geschichte anders um, als es sonst die Ver¬
fasser geschichtlicher Dramen zu tun pflegen.s Er gestaltet nicht
das Tun und Lassen eines „Helden“ nach der üblichen Weise,
vielmehr sucht er die Stimmung des ganzen Volkes, ganz Wien
in allen seinen Gesellschaftsschichten und in allen Ständen zu
schildern und aus der Darstellung den Verlauf der Ereignisse
zu erklären.l.
Dieser ursprüngliche und wirklich geniale Plan —das Wort
genial paßt sonst auf Schnitzlers Schaffen keineswegs.— mußte
ich
auf irgend eine Weise Fleisch und Bein gewin en wenn er
nicht einfach eine Erzählung von Napoleons Sie eszug werden
sollte. In der Ausführung der Idee aber zeigt sich Schnitzler
als der Novellist, als der Dramatiker der kleinen feinen, psycho¬
logisch durchgearbeiteten Episode. So groß er sich von dem üb¬
lichen Napoleondrama mit Geschützdonner und Paukenkrach
fernhält, so bescheiden ist er in dem, was er eigentlich auf der
Bühne vorführt. Von Napoleon und seinem Siege handelt das
Stück — seine Bewegung, sein Leben aber erhält es von einer
Liebes= und Intrigantengeschichte. Der junge Medardus, der
Buchhändlerssohn, zerflattert den großen Vorsatz, mit dem
Heere gegen den Feind zu gehen, in dem Augenblick in die
Winde, weil er zwischen Haß und Liebe hin= und herschwankt;
sein Verderben ist eine Prinzessin von Valois, deren Bruder
Franz die eigene Schwester des jungen „Helden“ mit sich in
den Tod genommen hat. Am Grabe sah Medardus die Prin¬
zessin Helene zum erstenmal. Er haßte sie, blutete
und
um dieses Hasses willen in einem Duell
muß sich schließlich doch von Liebe zu ihr überwältigt sehen.
Aber die stolze Prinzessin will mehr als Liebe. Sie hofft den
jungen Medardus zum Morde des inzwischen in Schönbrunn
weilenden Kaiser Napoleon bewegen zu können. Medardus hat
selbst diesen Plan schon erwogen gehabt. Aber da er nun
Werlzeug der Valois, der alten Gegner der Republik sein soll,
ekelt ihn die Tat an, und er ermordet in einer Aufwallung
seines Herzens die Prinzessin, gerade als diese selbst auf dem
Wege ist, Napoleons Siegeslauf mit dem Dolch zu beenden.
Im Gesängnis fühnt Medardus seine zwiefache Schuld, die
gegen das Vaterland durch ein offenes Geständnis seines An¬
schlages gegen Napoleon, die gegen die Valois durch den Tod,
den ihm Napoleons Adjutant General Rapp als hartnäckigem
Feinde diktiert. Zwischen diese vielfältigen Handlungen schiebt
sch die eines echten Patrioten, des Sattlermeisters Jakob
Eschenmacher, der, ein Oheim des jungen Medardus, als Opfer
seiner Vaterlandsliebe fällt. Das Ganze ist umwoben von un¬
zähligen Szenen, die das Wiener Bürgertum zu Napoleons
Zeit und wohl auch noch ein Jahrhundert später schildern.
Alles Einzelne ist da ebensogut beobachtet wie novellistisch sein
herausgearbeitet. Viel Leben breitet sich in den Bildern aus,
und aus dem Leben wachsen einzelne Figuren zu persönlicher
Bedeutung. So der eben genannte Eschenbacher, oder Karl
Etzelt, der großdenkende Geschäftsleiter der Buchhandlung,
oder der geschwätzig neugierige Drechslermeister Berger. Auch
die Hauptpersonen des Stückes haben viel Leben und viel
Wahrheit, so der Herzog von Valois und vor allem Helene,
die Schmalheit des Ausgeführten nur schwer vergessen. Um
sie unzweifelhaft hinterlassen, macht die Größe des Planes und.
die Schmeichelheit des Ausgeführten nur schwer vergessen. Um
so schwerer, als doch Schnitzler bei seiner Schilderung des
Wienerischen Oesterreich vieles Aeußerliche ausgezeichnet be¬
merkt und geschildert, nicht aber die in unserer Zeit erwiesenen
Fähigkeiten kraftvollen Aufschwungs vorausgeahnt hat.
Der Umfang des Werkes veranlaßte die Regie, die Victor
Barnowsky selbst mit sicherer Hand führte, zu energischen
Strichen. Der Rotstift hat das Gerippe der Handlung natür¬
lich stehen lassen und nach theatralischen Gesichtspunkten von
dem poetischen Fleisch nur das genommen, was nicht entbehr¬
lich schien. Dadurch hat sich der Eindruck des Stückes ein
wenig zu des Dichters Ungunsten verschoben, der Novellist und
Schilderer ist ein wenig gewaltsam zum starken Dramatiker
gepreßt worden. Vielleicht geht es mit dem „Jungen Me¬
dardus“ so wie mit Ibsen, daß man nämlich nach und nach
noch einiges aus dem breiten Text nachträglich wieder einfügt,
was bei der Première aufzuführen aus praktischen Gründen
untunlich erschien.
Die Aufführung erwies in ihrem Ernst und ihrer Krast,
daß man sich alle Mühe gegeben, mehr als ein Schaustück
herauszustellen. Zwar vermochte Theodor Loos dem jungen
Medardus weder die Feuerseele eines Retters des Vaterlandes
zu geben, noch den romantischen Widerstreit zwischen Liebe
und Haß mehr als äußerlich darzustellen. Dafür verlieh Lina
Losson der Prinzessin Helene Kraft, Innerlichkeit und Hoheit,
vielleicht aber zu viel Reinheit und Geradheit. Sie war
„jeder Zoll eine Königin“, nicht aber eine intrigierende
hronprätenden