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Ausschnitt aus:
Framdenblatt. Wien
vom:
191O
Aus der Theaterwelt.
(„Der junge Medardus“ und seine Vorbereitung im
Der Dichter Artur Schnitzler, Direktor
Bürgtheater.
Das
Baron Berger und Regisseur Thimig bei der Arbeit.
Ein neues
personenreichste Stück des Burgtheaters.
Spezial==Hausgesetz an der Hofbühne. — Burgiheater=Auf¬
Nachträgliches von der vor¬
führungen ohne Inspizienten! —
gestrigen Carl=Theater=Premiere: Leo Falls: „Das Puppen¬
mädel“. — Warum Mizzi Zwerenz geweint hat. — Lisa Weise
als Ansichtskartenverkäuferin.)
Nicht weniger als achtundsiebzig Personen werden in dem neuen
Stück Artur Schnitzlers „Der junge Medardus“ beschäftigt
sein; selbstverständlich sind damit ausschließlich Personen gemeint, die
irgend etwas zu sprechen haben, und wäre es auch nur ein Satz
Außerdem gibt es eine Unmasse von „Volk“, das zu rufen und zu
schreien hat. Man kann sich denken, welch schwere Mühe das Burg¬
theater gegenwärtig zu bestehen hat, um bei der Inszenierung der
so groß angelegten Dichtung zunächst aus dem Groben herauszukommen,
das heißt die Möglichkeit des Auftretens all der vielen Personen
zeitlich und räumlich festzustellen. In diese überaus komplizierte Arbeit
teilen sich der Dichter, Direktor Baron Berger und Regisseur Thimig.
Wenn berichtet wird, daß achtundsiebzig Personen im neuen Stück be¬
schäftigt sind, so ist damit nicht etwa gesagt, daß auch so viele Rollen
darin vorkommen. Im Gegenteil: der Rollen sind noch mehr. Nur be¬
half man sich damit, daß man einigen Darstellern zwei Rollen an¬
vertraute. Natürlich müssen diese derart auseinanderliegen, daß die
betreffende Person Zeit hat, das Kostüm zu wechseln. Solch kleine
technische Schwierigkeiten, wie sie sich in der Tücke des Objekts begreifen,
kosteten die Leiter des Burgtheaters in den letzten Wochen viele
Tage eifrigen Nachdenkens. Erst wenn alle Auftritte und Abgänge
festgestellt und die vielen Setzproben überflüssig geworden sind,
wird man an das Geistige des Stückes herantreten können. Das wird
freilich noch eine Weile dauern. Ein Vorspiel und jünf Akte, in denen
achtzehn Verwandlungen nölig werden — welche Riesenarbeit!
Selbstverständlich sind sämtliche männlichen Mitglieder des Burg¬
theaters in „Medardus“ beschäftigt. Den einzigen Baumeister hat
man ausgenommen. Von den Damen sind ebenfalls fast alle be¬
schäftigt; nur zwölf sind freigeblieben. Die neue Schnitzlersche Dichtung
wird mit Rostands „Cyrano de Bergerac“ und dem zweiten Teil des
„Faust“ das personenreichste Stück des Burgtheater=Repertoires bilden.
Und das teuerne; es wird nämlich die höchsten Tageskosten verursachen,
und zwar wegen der vielen Spielhonorare an Hofschauspieler, Mitglieder,
ständig und speziell verpflichtete Komparsen.
Selbstverständlich hat nur die Drehbühne ermöglicht, der
technischen Anforderungen der Dichtung Herr zu werden. Baron Berger
ist wohl niemals ein Freund dieser Erfindung gewesen, weil er der Mei¬
nung ist, sie verzerre das Bühnenbild, indem sie es zum Wintel zurecht¬
schneidet. Aber nun, angrsichts des „Medardus“, hat er selbst er¬
klärt: Hätte man nicht schon die drehbare Bühnenscheibe, man müßte
sie diesmal erfinden. Denn müßten die vielen Verwandlungen erst
während der Pausen der Aufführungen durchgeführt werden, so
spielte das Stück vielleicht bis über ein Uhr morgens! Ganze
Straßen und Plätze bauen, das Alt=Wien von 1809 in verschiedenen An¬
sichten plastisch auf die Szene zu zaubern — das ist keine Kleinigkeit!
Dabei hai Artur Schnitzler bisnun mit geradezu dichterischer Selbst¬
entäußerung an seinem Buch gestrichen, sobald ihm dees nur halbwegs
möglich schien; er behandelt sich zweifellos sehr schlecht.
Die Fülle der Personen, die für das Stück herangezogen werden
müssen, bringt es mit sich, daß man speziell für „Medardus“ eine
neue Hausbestimmung schaffen mußte. Es erging die Ver¬
ordnung, daß sämtliche in der Neuheit beschäftigten Darsteller zur Ab¬
solvierung ihrer Rolle von selbst die Bühne zu betreten
h. ohne, wie sonst, das Avis des Bühnen¬
haben, d.
inspizienten abzuwarten. Der Inspizient ist es nämlich, der
den ununterbrochenen Fortgang der Darstellung eines Stückes
hinter den Kulissen zu garantieren und die Verantwortung dafür zu
tragen hat, daß jeder Darsteller zur rechten Zeit auf der Szene er¬
scheint. Mit dem Buche in der Hand — die meisten Inspizienten
kennen wohl die Repertoirestücke auswendig — hat er, in der Kulisse
stehend, auf die Bühne hinauszuhorchen, um wahrzunehmen, wie weit
man gekommen ist, und um die Person, die neu auszutreten hat. einige
Momente vorher aufmerksam zu machen, daß sie „d'rankomme“. Man
sagt im Theaterjargon, der Inspizient habe die betreffende Person
„hinauszuschicken". Das geschseht natürlich möglichst still, entweder durch
einen Blick oder ein Winken oder — falls die Person nicht in der
nächsten Nähe weilt durch einen geflüsterten Aufruf: „Herr X., Sie
kommen sofort!" Worauf sich die betreffende Person in Positur setzt,
vor dem Publikum zu erscheinen.
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dritte den Hintergrund, wenn auch von dort ein Auftreten erfolgt. Dieses
Trifolium, aus Männern bestebend, die Ohren wie der Luchs und
Nerven wie Stricke besitzen müssen, verbürgen der gesamten Künstler¬
schaft des Burgtheaters während der Dauer der Vorstellung die
größte Gemütlichkeit und Ruhe. Die Damen und Herren
können ihr Auftreten gemächlich in den Garderoben beim Tee
oder Souper sitzend, oder im Konversationszimmer abwarten oder auf
der Hinterbühne promenierend. Sie brauchen den Fortgang der Vor¬
stellung nicht zu verfolgen — der Inspizient wird schon rufen, wenn's
Zeit ist! Dazu ist er ja da. Und wenn es etwa dazu kommen sollte,
daß ein Darsteller zu spät erscheint, so daß im Dialog ein „Loch“
entsteht (so nennt man notgedrungene Pausen), so trägt nicht
der Schauspieler, sondern der Rufer die Schuld, der Inspizient!
Doch, wie gesagt, von den achtund¬
Ein harter Dienstl.
siebzig im „Medardus“ beschäftigten Damen und Herren wird jeder
seinen eigenen Aufpasser machen müssen! Die Inspizienten sind davon
enthoben, so und so viel Minuten vor dem Vorhangzeichen die beschäftigten
Damen und Herren aus den Garderoben „herunterzuläuten". Obgleich
sie das mit geradezu stupender Geschwindigkeit besorgten — in zwei
Sekunden waren so und so viel Glockenzeichen gegeben. Ein richtiger
Inspizient behandelt die riesigen Tasterbretter, die in den Hof¬
thatern an den beiden Vorhangpfeilern angebracht sind, wie ein
pianistischer Virtuose seine Klaviatur. Mit ein paar Vier¬
viertel=Riesenalkorden — alle Finger sind beschäftigt
setzt
er ein, dann kommen einzelne Finger der Linken, wie der Rechten, die
die Viertel= und Achtelnoten aushalten, dann ein Triller, dann ein Lauf,
bald oben, bald unten — bei jedem Stück und vor jedem Akt gibt es
natürlich eine andere Signaltaster=Partitur — bis alles versammelt ist.
Wehe dem Inspizienten, wenn er einen Ton nicht angeschlagen hat, so
daß er ausbleibt. Passiert es dem Pianisten im Konzert, so geschieht
ihm nichts; die wenigsten Hörer merken etwas! Der Juipizient aber
wird „erschossen“! Ein leidiges Geschäft. Diesmal haben die drei Organe sofort
erklärt, daß ihnen das „Auspassen“ für 78 Personen gänzlich unmöglich sei.
Das sah Baron Berger auch ein — und darum erging die neue Ver¬
ordnung. Jeder Herr und jede Dame hat von selbst zur rechten Zeit mit
der Garderobe fertig zu werden, hat in der Kulisse zu stehen und
hinauszuborchen, ob sein Stichwort wohl schon bald fällt. ... Die
Inspizienten haben diesmal genug zu tun, um dem „Volk“ das Zeichen
zum Schreien, Murren oder Rufen und den technischen Arbeitern das Signal
zu den Verwandlungen, zu den Schüssen, zu den Bränden zu geben.
Man weiß ja: das Stück spielt 1809 zu Wien. Unter anderm wird der
alte Trattnerhof auf dem Graben in Brand geschossen. Bomben und
Granaten fliegen — hoffentlich werden die armen Inspizienten nicht
verrückt!
Die Theatersaison wird jetzt so recht warm, denn sie nähert sich
bereits der Wintertälte. Die Operettentheater spüren das auch und
beginnen ihre „großen“ Novitäten vom Stapel laufen zu lassen — das
sind nämlich die Werke jener Komponisten, an deren Namen daueinde
Erfolge sich zu lnüpfen pflegen — so weit man eben der launischen
Glücks öitin des Theaters irgend eine Gewohnheit zumuten kann. Das
Carl=Theater hat vorgestern den „ersten Fall“ losgelassen, nämlich den
ersten Leo Fall, der vom Publikum mit einem Beifall begrüßt wurde,
den stellenweise nur das stürmische Lachen von Parkett und Galerie
ertränkte. Man muß nämlich wissen: So wie in der vergangenen Saison
drei Lehar=Neuheiten ans Licht kamen, so dürfte uns die gegenwärtige
drei Fall=Operetten bescheren. Die erste haben wir schon, die zweite soll
uns das Theater an der Wien und die dritte das Johann Strau߬
Theater bringen. Werden sie vor ihrer Geburt auch so eigentümliche
Schicksale erleben, wie sie dem „Puppenmädel“ bescheden waren,
dessen Weg zum Glück mit Tränen von Frauenaugen gepflastert war,
mit Salzwasser, aus Schmerz geschöpft, mit feuchten Perlen, glitzernd
von jenem Glanze, den die feurigen „Gluren“ (ein Lieblingsausdruck
der Wiener Soubrettel der Frau Zwerenz ausstrahlen! Von der
humorvollen Diva des Carl=Theaters spricht man wieder einmal, seit
sie in der Fallschen Premiere einen so lustigen Triumph gefeiert hat.
Denn ihre Tänzerin Rosalillja, die glutvolle Dame mit den vierzehn
platonischen Verehrern, die aller männlichen Schüchternbeit lacht, hat
so gefallen, daß es nicht wenige, ganz verständige Leute gab, die er¬
klärten, die richtige Zwerenz=Rolle sei erst jetzt geschrieben worden.
Und dennoch: Frau Zwerenz hat sich gegen diese Rolle so heftig
gewehrt, daß sie nach wochenlangem vergeblichen Drängen, sie von dieser
uninteressanten, ja geradezu nichtigen Rolle zu befreien, um Lösung
ihres Vertrages bat. Ja wohl — die Künstlerin wollte mitten in der
Saison das Carl=Theater verlassen; sie erklärte, lieber die ganze
Saison auswärts als reisender Gast zu verbringen, ehe sie sich zwingen
lasse, in einer Novität eine ihrer schauspielerischen Position so wenig.
würdige „Wurzen“=Rolle zu übernehmen, das ist nämlich eine Rolle, ##
bei der man drauszahlt. Eine liebgewordene Stätte verlassen, an der
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