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21. Kontesse Mizzi oder der „unilientag
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Bühne und Welt.
oder der Familientag“, mit der das „Lessingtheater“ eine Neu¬
studierung von Karl Schönherrs „Erde“ einleitete. Aber das greifbar
und faßbar Erdige, der „Duft der Scholle“, wie die Klischeefeuilletonisten
sagen, ist im Umfange dieses Abends nicht nur für die zwischen dem Anzen¬
gruber=, dem Rosegger= und dem Ganghofer=Stil stehende Bauerntragödie
bezeichnend. Auch Schnitzlers Hand greift hier nicht, wie sie es nun seit
Jahren tut, ins Leere komplizierter, am Schreibtisch erklügelter Seelen¬
gespinste, versucht nicht, den Ibsen zu „überibsenen“, sondern bildet aus
den alten Vorräten an ironisch=weltmännischer Lebenserfahrung, die er
noch vom „Anatol“ an freimütiger Grazie, die er vom „Reigen“ her auf
Lager hat, und mit denen er allenfalls die Nebenräume, nicht aber die
Säle seiner letzten Bühnenarbeiten schmückte, Menschen nach seinem Bilde.
Das Hergebrachte, Naheliegende wäre es gewesen, aus diesem =Vieux
Marcheure, dem Paprika =Grafen, von dem sich seine langjährige
Freundin, Lolo vom Ballett, in die Ehe mit einem Fiaker zurück¬
zieht; aus dieser „Komteß Mizzi“, der Tochter des Aristokraten, deren
vom Stamme eines Wiener Diplomaten gefallener Sündenfall, ein
„strammer Junge", auch erst 18 Jahre alt werden mußte, bevor er Papa
und Mama in legitimer Ehe zusammenbringen kann, die Helden einer
sentimentalen Salontragödic mit dem verklingenden Bourget= oder Donnay¬
Schluß oder einer Zotenposse zu machen. Schnitzler aber, der als Beicht¬
vater jeden Streich, den das sexuelle Leben spielt, zu absolvieren pflegt,
steht erfreulicherweise zwischen den Grenzen der Gemütsathletik und der
Boccacciade; gibt Menschen, bei denen es halt stärker war als sie;
Menschen, die mit dem Lose, wie sie es sich nun einmal in die Lebens¬
suppe gebrockt haben, ohne Rührsamkeit, aber auch ohne Gefühlsroheit fertig zu
werden trachten; Menschen, die schließlich alles können und dürfen, die alles
kleidet, weil ihre Worte und Taten über die Grenzen noblen, maniervoll¬
liebenswürdigen Kulturanstandes nie hinausgehen. Der Leitsatz: „Alles
verstehen, heißt alles verzeihen“ ist das grundlegende Motto dieser all¬
gemeinen Kameradschaftlichkeit mit ihrer unbegrenzten, nur auf die Form,
nie auf den Inhalt sehenden Toleranz, bei der das Wort „Unmoral“
erst im Bezirk der schlecht gebügelten Beinkleider, der nach der vorletzten
Mode gefertigten Roben anfängt. Für die Damen, die im luftigen Hause
dieser Unmoral verkehren, hatte Frau Triesch jene innerlich ein wenig
wurmstichige, nach außen hin aber natürliche, tadellose Eleganz der Haltung
und der Manieren, mit der sie schon in de Flers' und de Caillavets
„Der König“ so typisch=witzig wirkte und die sie hier in den Schatten
einer leise verklärenden Gutmütigkeit stellte. Fräulein Sussin, diese
viel zu wenig gewürdigte Künstlerin, gab der Zwillingsschwester Annies
aus dem „Abschiedssoover“ die saloppe Frische einer jener Frauen, deren
Weh und Ach immer aus einem Punkte zu kurieren sein wird und deren
Liebesleben auch die reiferen Jahre nicht töten können. Aber Emanuel
Reicher als alter Steiger und Aristokrat war mirz im Bestreben, das
Nationale seiner Figur herauszuarbeiten, zu klein; weniger vom Typ
etwa des Grafen Andrassy als vom Typ des Grafen Mikosch.,
Walter Turszinsky.
eng
box 26/3