Faksimile

Text

box 24/1
L
d
P
19. Der Ru.s ebens
an dem Förster, der um Marie wirbt, und dem sie
all ihre Verbrechen beichtet, auch an der Tante, deren
Tochter die Schwindsucht hat und die Mutter verläßt,
um den Lebensrest noch in wüstem Liebesraumel zu
vergenden, die dem „Ruf des Lebens“ folgt, weil sie
den Ruf des Todes hört, auch sie finden den Weg zu
Lunserer Teilnahme, zu unserem Empfinden nicht, weil
Psie uns an ihrem Empfinden nicht teilnehmen lassen.
Wir sehen nur ihre Handlungen.
In diesem dreiaktigen Fortsetzungsroman ist auch
der Dialog Roman=Sprache. Getragene sogar,
ein wenig im empfindsamen Werther=Ton, einmal zu
Versen sich steigernd. Alle: Offiziere, der Förster, der
Arzt, die Frauen reden dasselbe Papierdeutsch, das zu¬
weilen fein zugespitzte Bemerkungen, geistvolle, in seinerem
Sinne witzige Wendungen enthält. So wenn der Oberst
über den Soldatenberuf nach drei Friedensjahrzehnten
klagend sagt: „Wo gibt es einen Arzt, dem man
immer nur ausgestopfte Puppen in die Krankenbetten
legt? Wo Richter und Anwälte, die ihr Leben lang
Inur gemalte Verbrecher sehen? Nur der Soldat ..
Im ganzen: Schnitzler ist auch hier der Schriftsteller
Tiak
hat uns nur keine neue Dichtung von
von Geist, er
Wert gegeben.
— Wenn das Lessing=Theater“ oder sagen wir
Das „Lessing=Theater“ hat dem Werk die liebe¬
die Direktion Brahm, ein Werk von Schuitlers¬
ankündigt, dann ist der Aufführung die lebhafte An¬
vollste Inszenierung angedeihen lassen. Das Zimmer
des alten Moser, — dieser Lebensgeizhals, der an der
teilnahme der literarischen Welt, dann ist ihr das
Schwelle der Achtzig sich zäh ans Dasein klammert
gesteigerte Interesse unserer Gesellschaft sicher. Auch
und die Jahre zählt wie ein Harpagon die Taler, ist
gestern Abend war die engere Literatur=Gemeinde ver¬
vielleicht die lebensechteste Figur des Stückes
hsammelt, und die neue Darbietung des stärksten
das Zimmer dieses keifenden Alten, die Kostüme
[Theater=Talents unter den Wiener Autoren
alle geben ein gutes Bild vom Wien der
fwurde mit einer gewissen Spannung erwartet. Auf
Biedermeierzeit. Das Landhaus am Waldes¬
Spannung blieb nun aber auch der ganze Abend
rand inmitten üppiger Wiesenwar vollends ein Regie¬
gestellt. Mehr als uns für den feinnervigen und
Virtuosenstückchen, das mit seinen üppiggrünen Hügeln,
geistvollen Autor, mehr als uns für sein Werk
auf denen sich Kinder tummeln, die Waldszenerie des
lieb war.
„Sommernachtstraum“ übertrumpfen zu wollen schien.
Unter einem langwährenden Zankduett zwischen
Der Vorbeimarsch des Reiterregiments im ersten Akt
Klatschen und Zischen ging das Stück zu Ende. Die
war nicht minder ein fein durchgeführtes Regiekonzert
Ausdauer der Applaudierenden, der Freunde, die sich
von Emil Lessing. Die Darstellung nahm sich des
Arthur Schnitzler mit einer langen Reihe von einem
Werkes in gleicher Weise an. Der grämliche und
vornehmen poetischen Parfüm durchzogener Dichtungen
polternde Kranke war ein prächtiges Gesellenstückchen von
erworben hat, hielten wacker aus, und so wurde denn
[Hans Marrs Charakterisierungskunst — er wird
der Verfasser wohl auch nach dem dritten
o leb¬
es zum Meister bringen. Irene Triesch verstand
und letzten Akt gerufen, nur nicht
es wieder, ihrer „Rolle“ Seele, eine sturmbewegte, von
haft wie nach den ersten beiden. Was an
diesem Beifall und diesen Hervorrufen Erfolg ist, verhaltener Leidenschaft aufgewühlte Seele einzu¬
hauchen. Wie keine andere vermag es die Triesch, in
bleibt Schnitzler immerhin zu gönnen, denn sein
einem diskreten Ton, in einem Blick, das Leid eines
überlegener tiesdringender Verstand, der kritische Blick,
gepeinigten, vornehmeren Wesens auszudrücken und mit¬
der die Welt so unbefangen ansieht, durch Schminken
zuteilen. Den betrogenen Obersten, eine feingedachte
und Hüllen gehend, verrät sich auch in dem gestern
Figur, einen Philosophen und witzigen Spötter im
vorgeführten Roman. Ja, ein Roman, ein auf
Waffenrock, wußte Herr Bassermann sehr an¬
Spannung gestellter, handlungsreicher Fortsetzungs¬
Roman ist dieser „Ruf des Lebens“. Viel äußere
ziehend zu gestalten und ihm den Ton des er¬
und wenig innere Vorgänge, viel Worte, oft sehr kluge
leuchteten, auf den Exerzier= oder Turnierplätzen des
Geistes heimischen Offiziers zu geben. Else Leh¬
und geistvolle Worte, aber selten sind sie Ausdruck
mann wandte ihre Wärme des Empfindens, ihre
eines starken Empfindens, an dem wir Anteil nehmen
schöne Herzlichkeit der Tante Toni, einer wenig er¬
können. Probleme, die einer gründlicheren Erörterung
giebigen Aufgabe, zu. Die Tochter dieser Tante, die
wert sind, werden gestreift, aber schnell wieder ver¬
Schwindsüchtige, die ihren Lebensrest wild vertollt,
lassen. Gegensätze in Charakteren und Anschauungen
scheinen sich emporzurecken, aber sie werden nur als
spielt Frau Grete Hofmann. Die Gattin unseres
Requisiten für eine Effektszene verwendet. Ungewöhn¬
trefflichen Heldentenors Kraus hat echtes Schauspieler¬
blut in den Adern, hat Temperament und Bühnensicherheit.
liche Vorgänge, nur bei vulkanisch erregten, revolu¬
Mit dieser an die Genußtollheit der florentinischen
tionierten Menschen erklärbar, ziehen an uns
Pestzeit erinnernden Gestalt, die wieder auch etwas
vorüber, wir sehen nur die gewaltsamen Ereignisse,
phantastisch ist, mag an sich wenig anzufangen sein,
wenig oder nichts von den inneren Triebfedern ....
und das innerlich wie äußerlich urgesunde Wesen der
Wir sind in Wien, aber nicht im sonnigen der
Frau Hofmann wollte für die sterbende Schwindsüchtige
„Liebelei“ und der Anatol=Szenen. I eine ziemlich
nicht passen. Immerhin verriet sich das ererbte
abstoßende Gesellschaft und beklemmen#e Stimmung
Talent der Baison wie der Hofmann auch hier in
führt uns das Stück zunächst. Der alte Moser ist ein
so manchem Moment. Den philosophischen Arzt gab
schwerkranker, widerwärtiger Egoist, der seine Tochter
Herr Reicher mit feiner, milder Ueberlegenheit, und
quält und martert. Diese stille Tochter fühlt in sich
den mächtigen „Ruf des Lebens“. Eine Ballnacht mit gesunder Naturfrische stattete Herr Rittner
brachte sie einmal mit einem jungen Offizier den Förster aus. Dem jungen Offizier lieh Herr
von den „blauen Kürassieren“ zusammen. Nun sies Stieler edle Haltung, und Frl. Else Schiff fand
erfährt, daß dieses Regiment eben in den Krieg zieht, sich mit der undankbarsten Aufabe, mit der Obersten¬
frau, geschickt ab. So hat denn das „Lessing=Theater“
und Offiziere wie Soldaten sich geschworen haben,
seinem Dichter diesmal mehr gegeben als der Dichter
es gilt eine
keiner dürfe lebend aus dem Kampf
dem Theater. Immerhin kann es ganz wohl möglich
frühere Schmach, die das Regiment durch eine Flucht auf
sein, daß die spannende Geschichte im Publikum ihre
sich lud, zu fühnen — zurückkehren, nun treibt ein wildes
J. L.
Verlangen sie zu jenem Offizier. Hier sind wir nun
Liebhaber findet.
bei einem Problem, das der Arzt Dr. med.
Schnitzler dem Dramatiker Schnitzter vermittelt hat.
Darf die Tochter den schwerkranken Vater verlassen?
Darf sie ihm, da er sie keinen Augenblick von seiner
Seite läßt, einen Schlastrunk geben? Der Arzt, der
Marie selbst liebt, rät ihr dazu und gibt ihr das
verhängnisvolle Faust=Fläschchen. Gretchen=Marie gibt
dem Alten den Trunk, der ihm Schlaf, ewigen Schlaf
bringt; sie läßt den sterbenden Vater liegen und eilt
zu ihrem Leutnant.
H 1
1