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19. Der Ruf des Lebens
box 24/2
Im Kasernenheim des Offiziers, wo sie sich im Schlafzimmer
„Moskauer Künstlerische Cheater“ hat die Hei¬
hinter einer Portiere verborgen-hält, erlebt sie als Ohrenzengin
mat, wo die furchtbare Wirklichkeit zur Zeit den schönen Schein
eine schauerliche Szone. Der Oberst der blauen Kürassiere,
nicht duldet, verlassen und ist mit seinem ganzen Apparat nuch
ein mit Tod und Leben spielender Ironiker, der die Opferung
Berlin gekommen, um dem Westen zu zeigen, was die russische
des Negiments vermutlich nur verschlug, um nicht weiter das
Schauspielkunst zu leisten vermag. Und dieses Können ist mehr
Dasein an der Seite einer Buhlerin ertragen zu müssen, über¬
als sehenswert, es erweckt in der Stadt der alten Kultur und
rascht bei dem jungen Offizier seine Frau, die den Versuch
der langen künstlerischen Entwicklung geradern Bewunderung.
macht den Geliebten zur Fahnenflucht zu bewegen. Der
Deß die Russen unsere Unnst zu würdigen verstehen und in sich
Niann der spitzen Worte und raschen Emtschlüsse erschießt, ein
ausgenommen haben, ist ja längst bekunnt; auch daß sie starke
Epigramm auf den Lippen, das tiefgemeine Weib und befiehlt
schanspielerische Talente besitzen, war uns micht fremd. Aber
dem Offizier, den Aiord auf sich zu nehmen. Der junge
daß sie die empfangenen Anregungen so selbständig in sich aus¬
Aensch greift mner dem Eindruck dieser Katastrophe zum
gestaltet und ein Ainstertheater begründet haben, von dem wir
Revolver — da stürmt Marie herein, nach der er sich heimlich
nun wieder Anregungen empfangen, ja direkt manches lernen
sehnte, und bestimmt ihn, ihr und sich eine Nacht zu schenken,
können, ist eine Tatsache, die berechngtes Aufsehen hervor¬
ehe er den Selbstmord ausführt. So trocken erzählt, scheim
ruft. Das „Aleskauer Künstlerische Theater“ ist eine Schöp¬
der Tharakter all dieser Szenen hart an einen Kolportage¬
fung zweier Alänner, die vor dieser Gründung nie auf den
roman zu grenzen. Aber es ist merkwürdig: Schnitzler drängt
Brettern gestanden haben, des Schriftstellers Nemirowitsch¬
in diese rasche Folge blutiger Vorgänge genug seelische Moti¬
Dantschenko und des Tuchfabrikanten Stanislawski, der —
vierung hinein, um den Eindruck greller Aeußerlichkeit zu ver¬
ohne seinen industriellen Beruf aufgegeben zu haben — heute
meiden. Es steckt mehr als Dirtnosität, es steckt eine gewisse
zu den ersten Schauspielern seiner Theatergesellschaft gehört.
epigrammatische Tragik in dieser kecken Entwicklung, und,
Bielleicht hat der Umstand, daß diese beiden Nlänner Iurek
hätte der Auter das Stück im Zuge dämonischer Leidenschaft zu
keine nivellierende Bühnengewohnheit beeinflußt waren. dazu
Ende geführt, es hätte einen nicht nur äußeren Erfolg für sich
beigetragen, daß sie ihre starken künstlerischen Ueberzeugungen
gehabt. Aber ein superkluger Schluß zerstört nicht nur die
und ihre feinen Intentienen so energisch, ohne Kompromisse
Stimmung und stellt nicht nur unmögliche Anforderungen an
und Zugeständnisse durchsetzen. Gewiß ist, daß sie etwas
unser Gefühl, sondern dementiert auch die vorhergegangene
Außererdentliches geschaffen haben: einen Bühnenkörper, der
Handlung, indem er den Leidenschaften, die alles motivieren
nicht nur gut geschult ist, sendern an dem jedes Glied den Ein¬
sollen, Kraft und Innerlichkeit benimmt. Eine Idylle soll uns
druck macht, an dem Geiste der Darstellung den lebendigsten
nach all den krassen Vorgängen skeptisch=wehmütig beruhigen.
Anteil zu haben. Seit den Tagen der Reininger hat kein
Die zwischen Alord und Sinnlichkeit hin und hergeworfene
wanderndes Ensemble in Berlin solchen Eindruck gemacht
Heldin verträumt in einer Art Betäubung stille Sommertage
Und dieser Erfolg ist umso merkwürdiger, als der größte Teil
bei ihrer Muhme auf dem Lande. Sie ist äußerlich frei, da
des Publikums nur unter Schwierigkeiten diese Schauspielkunst
der ergebene hausarzt den Cod des Daters für einen natür¬
genießt, nur durch die Vertrantheit mit den Stücken, oder durch
lichen ausgegeben hat, und wir sollen daran glauben, daß sie
die Lektüre von Uebersetzungen dazn gelangt, die Darstellung
sich auch innerlich frei macht und daß sich ihre entsetzlichen Er¬
in den Einzelheiten würdigen zu können. Aber über alle diese
innerungen milde in elegische Stimmung auflösen. Die
Hindernisse binweg bahnte sich der außerordemliche Erfolg den
Freunde wissen alles, verstehen und verzeihen. Der ehemalige
Weg. Die Russen spielten die Historie ihres Klassikers Alexej.
Bräutigam zieht zwar von dannen, aber mit der alten Liebe
Tolstoi. „Har Feodor Joannowitsch“, die, troßz einiger charak¬
im Herzen, der Hausarzt aber predigt salbungsvoll einen merk¬
teristischer Szenen, als Staatsaktion uns nicht viel bedeuten
würdigen Nihilismus: das Vergangene ist Schattenspiel, nur
kann, dann die Gesellschaftsstücke „Onkel Wanja“ und „Die
das Leben, das Heute, die Sonne ist lebendig und Marie
drei Schwestern“ von Tschechow, die in Milien und Charakte¬
fühlt, daß sie sich dem Heute, der Sonne wieder erschließt. Ge¬
ristik interessant, doch keine großen Wirkungen in sich tragen.
gen diese Idylle nach dem Morde, gegen diese Lehre vom
und Gorkis charaktervolle Szenenfolge „Das Nachtafpl“, die
toten Tod und vom lebendigen Leben, demonstrierte das Publi¬
man mit Recht hoch veranschlagt, die aber nach hunderten von
kum. Und ich meine: mit vollem Recht. Gewiß überrumpelt
Aufführungen für uns gewiß den Reiz der Neuheit verloren
uns die rein sinnliche Seite des Lebens mit Stimmungen wie
hat. Aber wie spielten sie das alles! Sie haben alle Mittel
sie da die Oberhand gewinnen wollen, aber das sind doch nur
des Theaters in der Gewalt, die wir langsam bei uns entwickelt
Selbstbetäubungen, gegen die das Selbstbewußtsein, in dem aller
haben, die realistische Charakteristik, die Belebung der
Zusammenhang unserer Handlungen wurzelt, reagiert. Aus
Ensembleszenen, die Miitwirkung des Szenenbildes, die Ab¬
einer solchen Betäubung, der Weisheit letzten Schluß zu
tönung der Stinimung, machen aber von allem einen eigentüm¬
machen, in den eine Tragödie ausklingt, ist nicht nur undra¬
lichen freien und erfinderisch=genialen Gebrauch. Ihre Insze¬
matisch, sondern auch ohne jeden individuellen Reiz. Mit dem
nierungskünste sind großzügiger, sie bringen das Richtige in
Schwamm dieser Art von Vergeßlichkeit kann man jede Art
Kostümen, Geräten und Interieurs, ohne das Kleine voran
tragischer Verwicklung auslöschen, aber es lohnt gar nicht sie
zu stellen, immer auf tiefe und weite Bilder bedacht, bei denen
aufzu zeichnen, wenn sie diesem Schwamm verfallen soll. Durch
der Gesamteindruck den Ausschlag gibt, sie zaubern stimnings¬
die ganze Wiener Schule geht ein nihilistischer Zug. der die
volle Landschaften auf die Szene, die nicht für sich wirken.
talentvollsten Werke entstellt; aus den Abgründen tönt es
sondern das Spiel unmittelbar unterstützen, wie in der Distorie
immer wieder hohl hervor: Niemand hat etwas „getan“, es ist
ein prächtiger Birkenhain, in dem die Liebenden auftanchen
nur „etwas geschehen“ und kein heute ist verantwortlich für
und verschwinden, und sie bringen Dolksszenen zustände, in
ein Gestern. Zum Glück ist das Gefühl stärker als diese Re¬
denen jede Dorstellung von Kommando und Drill verschwindet
flexion und spiegelt doch immer wieder den Zusammenhang
und der letzte Mann noch charakteristisch ist. Die Szene in
zwischen Willen, Tat und Stimmung; wäre es anders, so müßte
„Feodor Joannowitsch“, in der die Menschen von der Straße
die ganze Dramatik sich auflösen wie dieses neue Stück von
in den Jarenpalast hineindringen, sich erst gebückt und schen
Schnitzler, das sich mit all seinen dramatisch starken Elementen
aneinander nesteln und sich dann in plumper Verwirrung huldi¬
zuletzt in der Retorte der Sophistik verflüchtigt. Basser¬
gend auf den Boden werfen, war so meisterhaft durchgeführt,
manns genial gestalteter Oberst und die interessante Marie
daß sie als packendes Muliurbild Stürme von Beifall entfesselte.
der Triesch haben diesen Auflösungsprozeß nicht verhindern
Auch der Realismus der Einzeldarsteller, unter denen nament¬
können.
lich Moskwin mit seiner Unnst, einen Charakter von vornherein
Außer den beiden gekennzeichneten dramatischen Neu¬
bestimmt und festumgrenzt auf die Szene zu stellen, an Er¬
heiten brachten die letzten Wochen uns noch etwas Neues,
scheinungen wie Dessoir und Dawison erinnert, ist minder
unter dessen lebendigem Eindrucke wir stehen: ein ganzes hech¬
ängstlich als der unserer Natürlichkeitsvirtnosen; es ist mehr
entwickeltes fremdes Theaterwesen, das wir infolge eigentüm¬
Realismus aus erster hand, der freier schaltet, weil er keine
licher Verhältnisse betrachten und genießen, ohne uns von unse¬
Tradition zu überwinden hat. Kurzum: dieses Gastspiel ist
rem Heim zu entfernen. Das vor acht Jahren begründete
ein künstlerisches Ereignis, es wird Spuren in unserer eigenen