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19. Der Ruf des Lebens
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Der Ruf des Lebens.
sicheren Tod reiten. Man darf auf das Jahr 1849 raten, auf den Feldzug
Radetzkys in Italien. Doch die Kriegsgeschichte weiß nichts von dem Gelöbnisse
aller Offiziere und Mannschaft eines Regimentes, bis zum letzten Rosse unbedingt
fallen zu wollen. Diesen bizarr ausgeheckten Entschluß, zu dem auch der grüne
Tisch schwerlich seinen Segen gegeben hätte — im Kriege will man töten, nicht
getötet werden —, rückt der Verfasser mit dem Verschweigen der geschichtlichen
Jahreszahl nicht ins Reich der Möglichkeit. Aus dem Einfalle, ein Offizierskorps um
den Untergang des ganzen Regiments beim Kaiser bitten zu lassen, weil man zufällig
aus alter Kriegshistorie erfahren hat, daß das Regiment vor 30 Jahren der Fahne Un¬
ehre gemacht habe, — aus diesem Einfalle hätte Schnitzler höchstens ein salziges Pasquill
im Stile Bernhard Shaws gewinnen können. Es ist doch ein herausfordernder
Spaß: Tausende von jungen Leben dem Moloche und Popanze der Standes¬
(Fahnen=) Ehre dargebracht, und unter den jungen Leuten ist keiner, der weiß,
warum er absolut sterben muß! Freilich, die Okonomie jeder Heeresleitung, der
schießende Soldaten immer lieber sind als tote, würde auch dem Pasquill
den Boden entziehen. Schnitzler aber nimmt die Sache sogar ernst! . . ..
Ein kleiner, tragisch beißender Witz steckt dennoch dahinter. Aber er hat
privaten Charakter. Der alte Oberst des Regimentes nämlich empfindet das
Bedürfnis, mit möglichst guter Manier aus dem Leben zu scheiden, und
dazu ist ihm sein posierter Heldentod und der — des Regimentes gerade recht.
Der alte Oberst hat ein junges Weib, und das junge Weib hat einen jungen
Galan, einen Leutnant. Er ist zu schwach, der Oberst, um im Leben Ord¬
nung zu schaffen, ein fatigierter Kostverächter, zu hochmütig, um Gericht zu
halten. In dieser Schwäche, an der das Temperament unseres Wiener Dichters
eine charakteristische Mitschuld hat, bleibt ihm nichts als die sogenannte ritterliche
Noblesse, allerdings eine seltsame Art von Noblesse, die an dem Massenmorde
keinen Anstand nimmt.
Schon in diesem Kapitel des mit Motiven übersättigten Schauspiels sehen
wir im Grunde mehr schwächliches Erleben als lebende Kraft. Nicht geleugnet
soll jedoch werden, daß die erste Auseinandersetzung zwischen dem Obersten und
dem Leutnant Max, vornehmlich durch die Kunst eines klug beherrschten Dialoges,
bei dem unter der Erde leise das Schicksal zittert, den Dramatiker auf seiner
Höhe zeigt. Die das spezifische Gewicht des Werkes hebende Szene hat ein
Analogon in dem Auftritte des „fremden Herrn“ — erster Akt „Liebelei“ —; (in
der Erinnerung daran und an Friedrich Mitterwurzer streicht es einem kalt über den
Rücken!) Der Leutnant muß, um das nicht mehr geliebte Weib zu schonen, den
väterlichen Freund belügen; der erspäht kurz darauf die Gattin im Zimmer des
Leutnants, steigt durch ein Fenster, das für den gewöhnlichen theatralischen
Coup recht bequem zwei Fuß über dem Kasernenhof liegt, knallt die Frau
nieder und verachtet den Leutnant, der sich nun selbst erschießen wird. Klirren
und Knallen. Es klirrt und es knallt nicht, weil ein inneres Müssen zu
diesen Ereignissen treibt. Der Oberst kennt doch seine Frau längst, sonst ginge
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