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19. Der Ruf des Lebens
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Der Ruf des Lebens.
fest. Und inzwischen sollte er zu den heftigsten Außerungen der Lebenslust in
den Armen Maries im Stande sein? Man ziehe nicht die äußerlich ähnliche
Situation in „Rosenmontag“ an. Würde Max Marie lieben, wie dort Hans
die Traute, so müßte er entweder der Ehre entsagen und mit ihr weiterleben
oder mit ihr sterben. Er aber löst sich nach einer trotz mehrfacher Blutschuld ver¬
gnügten Nacht brutal von ihr los und stirbt allein, stirbt einer anderen Frau wegen.
Genau dasselbe Motiv: die Liebe des Mädchens verraten, der Mann für
eine andere in den Tod gegangen — erlangte in Schnitzlers „Liebelei“ natur¬
gemäße Ausgestaltung. Dort konnten wir glauben, hier nicht. Dort lebt sich
eine Seele in tragischer Ekstase aus, hier sollte im aschgrauen Innern des Mäd¬
chens die gepredigte Weisheit aufdämmern, daß das Leben jenseits des Zwanges der
lebendigen Stunden neue Werte für den ersprießen lasse, der das Leben über¬
wände. Nach dem Gepolter der beiden ersten Akte verliert sich der dritte in
weitsichtigen Ahnungen. Zum Überflusse ist er noch mit den Delirien einer
sterbenden Jugendfreundin Maries geschmückt, die sich in ihrem Ballkleidchen so
rätselhaft in die Sommerfrische verirrt wie in Arthur Schnitzlers Schauspiel. Es
schiene mir doch die Schallwände für den Ruf des Lebens allzu weit aufbauchen,
wenn man auch das Schicksal der kleinen Nymphomanin Katharina unter diesen
Titel stellte. Die übrigen Episodenfiguren des Stückes werden geschickt gezogen,
haben aber so wenig eigene Physiognomien wie der Dr. Schindler, der nur Herr
Chorus ist.
Der Denker Schnitzler hat in diesem Stücke einen Schritt nach aufwärts
getan, der Dichter ist zurückgeblieben. Aus dem Chaos jenes Lebens, das nur um
der Sensationen willen gelebt werden sollte, tastet der Dichter ahnungsvoll nach
anderen Zielen. Er denkt an Menschen, die nicht die lebendige Stunde endgültig
unterwirft; die, obwohl höchsten Lebensinhaltes in Lust und Schmerz fähig, doch
stärker sind als das Leben; die das Leben überwinden — aber nicht mit dem
Tod und nicht mit der Askese, sondern mit einer an Erfahrung weise gewordenen
Freude; an Menschen, die dann erst recht ein Leben leben, ein schön bewegtes,
nicht mehr erschüttertes Leben. Das deuten ungefähr die Worte an, die der bequeme
Herr Chorus im letzten Akte spricht: „Sie leben, Marie . . .. und es war ...
Auch seit jener Nacht und seit jenem Morgen fließen die Tage und Nächte weiter
für Sie hin. Auch daß Sie über Feld und Wiesen spazieren gehen, daß Sie
Blumen pflücken, daß einer versöhnt von Ihnen Abschied nahm, daß hinter
diesem Fenster eine Freundin Ihnen für ewig entschwindet, daß Sie hier mit mir
reden unter dem leuchtenden Mittagshimmel, ist Leben. Nicht minder als es jene
Nacht gewesen ist, da es Sie aus verstörter Jugend nach dunklen Abenteuern
lockte, die Ihnen heute noch als Ihres Daseins letzter Sinn erscheinen. Und
wer weiß, ob Ihnen nicht später — viel später einmal, aus einem Tag wie der
heutige der Ruf des Lebens viel reiner und tiefer in die Seele klingen wird, als
aus jenem anderen, an dem Sie Dinge erlebt haben, die so furchtbare und
glühende Namen tragen, wie Mord und Liebe.“
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