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19. Der Ruf des Lebens
box 24/2
dern der natürlichste Schauspieler,
d. h. seine national=slavische Natur¬
anlage kommt den äußeren Erforder¬
nissen der Schauspielkunst aufs glück¬
lichste entgegen. Er hat nicht erst
den entsagungsschweren Kampf der
Persönlichkeit durchzukämpfen, unter
dem die Ausdrucksfähigkeit unserer
großen germanischen Bühnenkünstler
so oft zu leiden hat. Er steht dem ur¬
tümlichen Spiel= und Nachahmungs¬
trieb der Menschheit gleichsam noch
um eine Spanne näher. Wie ohne
weiteres einleuchtet, muß ihm das
vornehmlich und in ganz besonderem
Maße bei der modernen Bühnen¬
literatur zugute kommen, die ja Men¬
schensein und Menschentun unmittel¬
barer und unbedingter auf die Bret¬
ter zu bringen sucht als die früherer
Zeiten. Aber auch für die Darstel¬
lung klassizistisch=heroischer Dichtun¬
gen, wie Alexej Tolstojs ganz von
Weimarer Geist erfülltes Zarendrama
eine ist, bietet ihnen dieser von Kritik
und Theorie weniger als der unsere
angekränkelte Natürlichkeitsstil über¬
raschende Hilfen. Er bewahrt sie glei¬
chermaßen vor einem hohlen, sich
überstürzenden und übernehmenden
Pathos wie vor einer allzu peinlichen
und kleinlichen Tiftelei. Jene verhal¬
tene, in sich selbst gebändigte Herb¬
heit, in die sich so überzeugend ein
bewußter männlicher Wille kleidet,
haben wir bisher immer gern für eine
ausgesprochen germanische oder wohl
gar norddeutsche Schauspielereigen¬
art angesehen; seit dem Gastspiel der
Moskauer wissen wir, daß auch der
Russe sich ihrer bis zur Verleugnung
aller persönlichen Theaterwirkung zu
bedienen versteht. Anfangs galt das
für Armut, und der Darsteller des
willensstarken, aber sich völlig im
Zaume haltenden Usurpators Boris
Godunow (Herr Wischnewski) mußte
in der Titelrolle des „Onkel Wanja“
erst zeigen, daß er auch über ein
feuriges Temperament verfügt, be¬
vor man ihm solche spartanische Zu¬
rückhaltung als Reichtum auslegte.
Freilich wollen wir uns vor Ver¬
allgemeinerung hüten. Das „Mos¬
kauer Künstlerische Theater“ nimmt
nach den übereinstimmenden Berichten
aller Rußland=Kenner auch daheim
eine Sonderstellung ein; der Durch¬
schnitt des russischen Theaterlebens
steht weit mehr unter dem Zwange
des pathetisch=getragenen Stils von
früher und gehorcht, wo er Fort¬
schritte zeigt, weit sklavischer dem
Meiningertum und seinen zur Schab¬
lone erstarrten Ueberlieferungen. Daß
die Moskauer, soviel sie von den
Meiningern gelernt haben mögen,
dieser Schule vollkommen frei gegen¬
überstehen, alles Gute und Tüchtige
aus ihr aufgesogen, alles Starre und
philologisch Kleinkrämerische von sich
abgestoßen haben, ist einer ihrer
Hauptvorzüge. Wie sie ihre Volks¬
und Massenszenen behandeln, das
zeugt von überlegenem Kunstverstande.
Bis ins kleinste durchgearbeitet und
individualisiert in Erscheinung, Mas¬
ke, Mimik, Haltung und Bewegung,
werden diese Statisten=Ansammlungen
doch niemals zu selbstgefälligen Ty¬
rannen der Hauptszene, in der der
geistige Gehalt des Augenblicks ruht.
Von einer überquellenden Fülle und
Mannigfaltigkeit in dem freien Durch¬
einander, ebbt all dieses doch sofort
zurück, sobald die geistigen Persönlich¬
keiten, die eigentlichen Träger der
Szene, ihre Rolle wieder aufnehmen.
So sind die Moskauer auch für die
Wiedergabe klassischer Dramen bereits
zu einem einheitlichen, in sich be¬
ruhigten und gesättigten Stil gelangt,
ohne daß sie, wie es scheint, die bit¬
teren, verquälten Uebergänge haben
durchmachen müssen, die unsere deut¬
sche Schauspielkunst in dem noch an¬
haltenden Interregnum zwischen Na¬
turalismus und Neuklassizismus so
arg verwirrt haben.
Das Bedeutendste aber, was uns
Kunstwart XIX, 12