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19. Der Ruf des Lebens
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Cheater
gehetztes Herz klammert sich an den mitleid¬
Körperkraft, wenn der Hundertjährige seine
losen Henker seiner ererbten Macht. —
Erinnerungen auskramt, und der Zar wie
cet esprit d’impudence et d’erreur
ein guter Hausvater dem Geschwätzigen zuhört,
Delachutedes rois funeste avant-coureur.
während hinter ihm schon das harle Auge
So ward uns das russische Gastspiel
des Günstlings die Köpfe zählt, die fallen
mehr als ein künstlerisches Erlebnis. Es
sollen; wenn aus dem elenden Grau der
gab uns zu manchem den Schlüssel des Ver¬
Bürgerkleider, dem prunkenden Gold der
ständnisses; erschien uns ein Gleichnis und
Prälatengewänder und der Heiligennischen
ein Wetterleuchten. Und so wäre vielleicht
und dem flimmernden Glanz der Edelsteine
neben ihm auch besseres verblaßt, als es
an den Fingern und Gürteln der Großen
sich ein fremdartiges, packendes Bild vor
die letzten an dramatischen Taten so armen
Wochen zu zeigen hatten. Dieses Spiel der
unseren Blicken entrollt — dann fühlen wir
Moskowiter gab uns keinen Dichter, kein
aus einer seltsamen Mischung von Glanz
neues Stück, keine Virkuosenleistung, die
und Elend, von Verschlagenheit und Harm¬
man gesehen haben muß, wenn man in
losigkeit, von Kurzweil und Schwermut, von
Berlin W. mit Anstand will soupieren
gutmütigem Augenblicksgenuß und ver¬
können. Es gab unendlich viel mehr: ein
haltener Grausamkeit, von Kultursehnsucht
Volk in seiner Resignation und seinen
und Asiatentum: das ist Rußland.
Das einzig Anechte an diesem Stück —
Hoffnungen, in seiner Schlaffheit und Leidens¬
an der Historie gemessen — ist der Zar.
stärke, in all dem, was seine Erniedrigung
und seine Größe ausmacht, was seine Gegen¬
Feodor, Iwan des Schrecklichen schüchterner
wart verschuldet und was seine Zukunft
Sohn, war ein Trottel und nur ein Trottel.
bauen wird ..
Tolstoi wandelt ihn zu einem weichen gut¬
Was bedeut aber solchen unvergeßlichen
herzigen Schwächling; und Moskwin macht
Abenden, da ein großes, reiches, unbekanntes
ihn in einer bewundernswerten schauspiele¬
Leben hereinflutete in das so lange dilet¬
rischen Leistung zu einer unvergeßlichen
rührenden Gestalt. Schon körperlich nieder¬
tantisch entweihte Bühnenhaus der Char¬
lottenstraße, das bißchen Theater am Friedrich
gedrückt von dem Gewicht all des Goldes
und der Juwelen, die seine weibisch langen
Karl=Afer und in der Wallnertheater¬
Straße? Dort versuchte Arthur Schnitzler.
und bunten Staatsgewänder zieren, leidet
der feine Poet mit der modernen, müden
dieser Zar das ganze Martyrium gekrönter
Wiener Note, ein robustes Theaterstück zu
Anfähigkeit. Der Blick der ängstlichen Augen,
zimmern. Die Tochter vergiftet den Vater
die zaghafte Rede seines Mundes, jede Hand¬
im ersten Akt. Ein Gatte erschießt die
bewegung, die ein Befehl sein soll — alles
wird zur schüchternen flehenden Bitte: „Laßt
Angetreue im zweiten Akt. Ein lebens¬
mich's nicht entgelten, daß ich der Zar bin.
hungriges Mädel stirbt an Schwindsucht im
dritten Akt. Was bleibt, ist eine Resignation
Quält, betrügt, verlaßt mich nicht, weil ich
so mächtig bin!“ Nur wenn die Zarin Irina,
und ein oft gehörter alter Schnitzler=Trost:
Schuld und Sünde — große Worte. Das
den Leidenszug um die großen, dunklen
Leben spielt mit ihnen und zerbricht lachend
Augen, sich zu ihm beugt; wenn er mit zag¬
ihren Sinn. Das Leben will nur sich selbst
haftem Scherz ein Lächeln zaubern konnte
um seiner selbst willen... „Der Ruf des
auf die ernsten Lippen dieser klügeren Frau;
Lebens“ hätte nicht so laut sein dürfen, be¬
wenn er inder zärtlichen Berührung ihrer
gleitet von Gepolter und Schüssen, hätte
schlanken Hände spürt, daß es ein Wesen
gibt, das ihn, den allmächtig Ohnmächtigen
schnitzlerischer bleiben müssen, hinter den
Worten ein Locken und eine Sehnsucht. Das
liebt, obschon er der Zar ist, dann breitet
war der große Erfolg der „Liebelei“, die
es sich für Augenblicke wie eine selige Zu¬
dem robusteren „Ruf des Lebens“ den
versicht verklärend, verschönend über sein
heimlichen Leitgedanken und das Feinste und
schlaffes, fahles Gesicht. Dann vergißt er
Beste in leise schwingenden Stimmungen
ganz, wie „mächtig“ er ist und träumt —
mitgegeben hat. So entwickelt sich aus den¬
bloß glücklich zu sein. And er schiebt die
selben Motiven — Liebessehnsucht des süßen
Dokumente und Staatsgeschäfte sorglos mit
kleinen Mädels, Doppelverhältnis eines flotten,
dem Handrücken zu Boris Godunow hinüber,
gutherzigen Burschen zu einer verheirateten
dem Starken, Nervenlosen, Eisernen, dessen
Frau der Gesellschaft und zu einem Bürger¬
heimlich hämmernder Ehrgeiz schon den Anter¬
mädel — dort ein handlungsarmes Stückchen
gang der Schujskis vorbereitet und den Mord
echter moderner Lebenspoesie, das uns lange
des kleinen Demetrius plant. Sein müd¬
* 107 =