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19. Der Ruf des Lebens
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ausspricht, stirbt eine andere, die ebenfalls dem Ruf des Lebens gefolgt war. Es
ist Mariens Base Katharina, die früh vom Tode Geküßte. Auch sie hatte ihr Ball¬
abenteuer mit einem Offizier des gleichen Regiments, auch sie war in jener Nacht
vor dem großen Sterben bei ihrem Liebsten, um Abschied von ihm zu nehmen.
Aber es war ein anderer Abschied, ein Abschied in jauchzender Lust. „Meine Küsse
brennen auf seiner Brust“ triumphiert sie, „kein Weib mehr küßt sie weg! Er war
jung vor einer Stunde, uralt ist er mit einem Male. Ich bin jung, ich denke seiner
nicht mehr. Und er reitet in den Tod.“ Was aus ihr spricht, ist die Lebenslust, die
noch geschwind alle Freuden dieser Welt zusammenraffen möchte. Wir wissen von
ihrer Mutter, daß ihre Tage gezählt sind. „Im Winter sind die Rosen auf ihren
Wangen aufgeblüht, so wie bei ihren Schwestern. Da gibt es keine Hilfe. Mein
seliger Mann, der fuhr auf der See herum und mußte doch sterben, und Brigitte
und Anne rührten sich von meiner Seite nicht fort, waren gut und brav, atmeten
die reine Luft unseres Tannenwaldes, und liegen nun doch beide draußen unterm
Rasen.“ Auch Katharina weiß es, wie es mit ihr steht. „Mit zweiundzwanzig lieg'
ich im Grab, heut' bin ich neunzehn. Ich will nicht bei der Mlutter bleiben diese
drei Jahre. Wenn ich so still dahinlebe, wird mir bang. Nur die sich an viel zu
erinnern haben, schlafen ruhig in der Erde. Die anderen flattern und klagen über
der Erde umher. Oft schon bei Nacht hab' ich meine toten Schwestern gesehen.
Ich will ruhig schlafen.“ Und so durchbuhlt sie ihre Nächte, von einem Liebhaber
zum anderen flatternd, bis sie endlich sterbend heimkehrt. Noch in ihren Todes¬
visionen weilt sie bei ihnen. „Es wartet einer auf mich ... Einer mit dunkelrotem
Mund und zornigen Augen und einer leuchtenden Stirn... Und ein anderer hat
mich im Wagen hergeleitet. Aber dem hab' ich auf der Landstraße gesagt: „Fort,
ich hab' dich satt! Was willst du? Sieben Nächte bist du bei mir gewesen, ist das
nicht genug?“ Und da küßte er mir die hand: „Danke, schönstes Fräulein, und
sprang aus dem Wagen und lief über's Feld... Aber der mit den zornigen
Augen reitet mir nach ...“
Solcher Art sind die poetischen Schönheiten, von denen die Vorgänge um¬
sponnen sind. Es sind mitunter grausige Schönheiten. Aber alle zeugen von einer
kühnen Phantasie, auf allen ruht der Abglanz einer tieferen Lebensweisheit. Und
was ich an dieser dramatischen Arbeit Schnitzlers besonders schätze, das ist, daß sie
streng durchkomponiert ist. Nicht ein einziges Motiv wird angeschlagen, das nicht
durchgeführt erscheint, nicht eine einzige Episode taucht auf, ohne eine innigere
Beziehung zum Ganzen. Wollte man die Fäden des feinen Gewebes bloßlegen,
müßte man jede Gestalt, jeden Vorgang mit umständlicher Behutsamkeit auswickeln,
um schließlich zu erkennen, daß man so zu keinem gedeihlichen Ende kommt, weil
hinter den Dingen noch tiefere Geheimnisse verborgen liegen, die sich dem analpti¬
schen Verfahren entziehen. Wie fein verästelt mit der sichtbaren Handlung ist z. B.
das Geschick des dem Tode geweihten Regiments, durch dessen Schuld, wie es heißt,
vor dreißig Jahren eine Schlacht verloren ward, und mit welch meisterhafter Technik
werden die Motive enthüllt, die zur Sühne der fast vergessenen Schuld führen.
Still und feierlich marschiert das Regiment am Fenster vorüber. Sonst begleiten
Hurrahrufe seinen Ausmarsch. Es muß ein Seltsames sein, daß die Leute nicht
rufen wie früher. Und nun kommt die Kunde, wovon alle auf der Straße reden.
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Osterreichische Rundschau“, XXI. 6.
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