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19. Der Ruf des Lebens
Schauspiels „Der Ruf des Lebens.“ Wir selber sehen die aus¬
reitenden Soldaten nicht, aber im Zimmer des alten Rittmeisters Moser,
in dem die Szene spielt, hört man das Traben der Pferde und vom
Fenster aus kann man den Zug erblicken. Und der neunundsiebzig¬
jährige alte Moser, der totkrank und siech im Lehnstuhl liegt, ist derselbe
Offizier, der in jener verhängnisvollen Schlacht vor 30 Jahren den
ersten Anstoß zu der feigen Flucht der „gelben Kürassiere“ gegeben hat.
Seit Jahren quält der bösartige Alte seine ihn treu pflegende Tochter Marie,
deren Jugend in der dumpfen Krankenstube zu welken droht. Ein einziges Mal
hat Marie den Vater auf einige Stunden verlassen, um mit Ver¬
wandten einen Ball mitzumachen, und seitdem muß sie die bittersten
und kränkendsten Vorwürfe über sich ergehen lassen. Aber gerade auf
jenem Ball hat sie das Leben kennen gelernt — das Leben, das sie
jetzt ununterbrochen ruft. Ein junger Leutnant von den „blauen
Kürassieren“ hat sie in den Armen gehalten und Stunden hindurch mit
ihr getanzt. Seitdem ist ihr des Vaters Krankenstube zum Gefängnis
geworden; einem lieben Menschen vom Lande, dem Forstadjunkt
Rainer, der sie als seine Verlobte betrachtet, gibt sie den Laufpaß, und
wie sie jetzt von dem Todeszug der blauen Kürassiere hört — ihre Base
Katharina erzählt ihr, daß ihr, Maries, Leutnant erst morgen mit der
letzten Schwadron des Regiments ausrücken wird — da schenkt sie den
Einflüsterungen des sie ebenfalls heimlich liebenden alten Arztes Gehöt,
reicht dem Vater ein Schlafmittel, das einen „Schlaf von hundert
Nächten“ enthält und eilt zu dem Geliebten. Im Zimmer des Leutnants¬
Max (zweiter Akt), wo sie sich versteckt, wird sie Zeuge einer furchtbaren
Szene. Der Leutnant, der gerade den Besuch seines Obersts empfangen
hat, der den Versuch macht, ihn von dem Todesritt zu befreien, ist der
Geliebte der Frau des Obersts. Auch diese, Irene, kommt zu Max und
will den jungen Offizier zur Fahnenflucht veranlassen, aber er stößt das
sinnliche Weib zurück — und wird im gleichen Moment von seinem Oberst
überrascht, der sein ehebrecherisches Weib in Gegenwart ihres Lieb¬
habers niederschießt und jenem überläßt, selber den letzten Schritt zu tun.
Wie Max die Waffe gegen sich richten will, tritt Marie aus
ihrem Versieck hervor.... die eine, die letzte Nacht soll den Beiden
noch gehören. — Nach den grellen, gewaltsamen Vorgängen der zwei
ersten Akte kann der dritte nur mehr ein Ausklang, eine Versöhnung
sein. Das Regiment hat seinen Schwur gehalten, Max war am
Morgen des Ausreitens erschossen neben Irene gefunden worden, den
alten Moser hat man vor drei Wochen begraben, nachdem der Arzt
alle Spuren des unnatürlichen Todes verwischt hatte. In einem
Garten auf dem Lande bei der Tante treffen sich der Adjunkt, der
Arzt und Marie, und zuletzt kommt noch die Base Katherine, die auch
in die Welt entlaufen war und mit zerstörtem Leib und Geist zur
#e Breslauer Sommertheater.
Mutter zurückkehrt, um zu sterben.... Der Ruf des Lebens war bei
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„Der Ruf des Lebens.“
beiden Mädchen trügerisch gewesen.
In den Straßen Wiens drängt sich die Menge, um den in den
Arthur Schnitzler gibt uns mit, diesem vor vier Jahren entstandenen
Krieg ausmarschierenden Truppen letzte Abschiedsgrüße zuzurufen. Jedes
Schauspiel eine Reihe von psychologischen Rieseln auf, über die
einzelne Regiment wird mit Hurrarufen empfangen. Nur eines nicht.
grüblerische Leute sich den Kopf zerbrechen mögen. Die Buchausgabe
das elfte Kürassierregiment, die sogenannten „blauen Kürassiere“. Über
des Werkes (Berlin, S. Fischer) ist bezeichnenderweise Hermann Bahr
sie kursiert ein merkwürdiges Gerücht unter der Einwohnerschaft. In
gewidmet, eben jenem Schriftsteller, der in seinen Kritiken gerade diese
einem früheren Feldzug, vor dreißig Jahren, soll sich das Regiment in
„Dunkelheiten“ bei Schnitzler immer so überschwänglich gepriesen und
einem entscheidenden Augenblick als feig erwiesen und damit Schlacht
mit dem Goethewort entschuldigt hat: „Je inkommensurabler und für
und Feldzug zu des Landes Unglück entschieden haben. Und nun sollen
den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser.“ Ob
die Offiziere vom Kaiser verlangt haben, diese Schuld fühnen zu dürfen.
freilich Goethe diesen Satz im Sinne Bahrs oder Schnitzlers meinte,
Das Regiment soll dorthin gestellt werden, wo das Verderben unab¬
ist fraglich, aber dies eine ist sicher, daß derart „inkommensurable“
wendbar ist, und die Offiziere haben einander zugeschworen, daß keiner
Dichtungen auf der modernen Bühne sich seltsam genug ausnehmen.
von ihnen die Heimat wiedersehen wird. Und weil dieser Schwur unter
Der Weg vom „Anatol“ und der „Liebelei“ zum „Ruf des Lebens“ mit#
der Bevölkerung bekannt geworden ist, verstummen die Hurras beim
seinen Fragezeichen und Geheimnissen, seinem Übergewicht au
Vorüberreiten der in den sicheren Tod Ziehenden, die Menge bleibt
Stimmung gegenuber der briialen Handlung ist vielleicht trot
stumm, man hört nur das Traben der Pferde. . . .. Das ist der Hinter¬
grund und das Stimmungsmotiv für den ersten Akt des Schnitzlerschen! Hermann Bahr ein Jerweg.
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