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19. Der Ruf des Lebens
Insschnftf ät Wiener Thgtia“t, Wien
vom:
B
Theater, Bunst und Titeratur.
Deutsches Volkstheater. Das dreiaktige Schau¬
spiel „Der Ruf des Lebens“ von Artur
Schnitzler hat vor acht Jahren seine Uraufführung
in Berlin erlebt; drei Jahre nachher wurde das
Werk des Wiener Dichters im Deutschen Volks¬
theater zum erstenmal vor einem Wiener Publikum
gespielt. Gestern nahm diese Bühne das Stück in
einer zum Teil veränderten Rollenbesetzung wieder
auf. „Der Ruf des Lebens“ spielt „etwa in der
Mitte des vorigen Jahrhunderts in Oesterreich, der
erste und zweite Akt in Wien, der dritte in einem
niederösterreichischen Dorfe.“ Aber trotz dieser
Zeit= und Ortangabe mutet das Werk doch
ganz märchenhaft an. Im Dunk. phantasti¬
scher Vorgänge wandeln die Figuren wie Sinn¬
bilder auf seltsamen Wegen. Der Dichter führt
Menschen vor, die, so verschieden sie auch von¬
einander sind, doch das Schicksal miteinander gemein
haben, daß keiner das Glück, für das er durch seine
Natur bestimmt war, erreichen konnte. Diesen
Menschen ist nun oft, als rufe das Leven, das sie zu
versäumen scheinen, nach ihnen. Dem einen klingen
die Stimmen tief und rein in die Seele, der andre
vernimmt nur aufreizende Töne. In manchem kann
der lockende Ruf das Beste töten. Er treibt ein
Mädchen zu einem schweren Verbrechen, verführt eine
Frau zur Treulosigkeit und macht eine andre zur
Dirne. An manchem aber bleiben die Lockungen des
Lebens machtlos. Diesen gelten sie nichts gegenüber
den Berufspflichten oder den Geboten der Ehre, und
auch der Wunsch, ein gutes Veispiel zu geben, macht
sie widerstandsfähig. Man ist dem Dichter gestern
teilnahmsvoll und ergriffen gefolgt, hat dem Werle
und der Aufführunglebhaften Beifallgespendet. Einige
der Künstler, die gestern mitwirkten, die Herren
Kramer, Kutschera, Klitsch und Edthofer
psowie Frau Thaller haben schon vor fünf Jahren
Hamalim-rFrünlein Hannemann.
Paula Müller und Direktor Weisse) über den Erfolg
des Schauspiels entschieden. Ihnen schlossen sich
gestern die Herren Lackner und Onno, die Damen
v. Wagner, Bukovics und Steinsiek als neue Ver¬
treter der wichtigsten Rollen an. Herr Lackner gab
den bösen alten Mann, der seine Tochter selbstsüchtig
zwingt, ihr junges Dasein in seiner Krankenstube
zu vertrauern. Er milderte ein wenig die grausame
Härte, durch die dieser Greis schon fast an gewisse
Unholde in Märchen erinnert. Frau v. Wagner
spielte das junge Mädchen, die lange geduldig ihre
Schönheit und Jugend verblühen läßt, bis plötzlich
die Nacht, die ihr die Liebe bringen soll, sie zur
Mörderin macht. Ihr glückte sehr gut der Ueber¬
gang von stiller Wehmut zur wilden, besinnungslos
machenden Aufwallung. In der Rolle des andern,
liebestollen, Mädchens war Fräulein Bukovics
von einer noch kindlichen Leichtfertigkeit und sei
rührend in der Ahnung eines frühen Endes.
Fräulein Steinsiek gab der untreuen Frau ein
verführerisches Wesen. Um die schwierige In¬
szenierung des Schauspieles hatte sich Herr Kramer
E.
verdient gemacht.
box 24/5
hnitt, ans Die Zeit, Wien
1974
Theater und Kunst.
Deutsches Volkstheater. Schnitzlers„Ruf
des Lebens“ wurde gestern in neuer Ein¬
studierung auf die Bühne gebracht, und es hat
in den Jahren, seitdem man es zum erstenmal
sah, nichts von seinen Werten verloren. Es
trat zu ihnen sogar noch ein gewisser Gegen¬
wartswert, der jedenfalls mit ein Beweggrund
war, das Schausviel wieder aufzuführen. Es
spielt ja in Kriegszeiten, man hört die Hufe
der Pferde klappern, und von der ersten Szene
an ist man beklommen ob des Schicksals jener
„blauen Kürassiere“, die dreißig Jahre vorher
schlapp gewesen und nun die Schmach, die auf
dem Regiment liegt, dadurch fühnen wollen,
daß sie in eine Schlacht reiten, von der es keine
Wiederkehr gibt. Was ihnen auch Mann für
Mann gelingt. Das stand gestern weiter im
Vordergrund als das Leid jenes Mädchens, das
sich von dem alten, kranken, bösen Vater befreit
und dem Rufe des Lebens folgt. Es fand in
Erika v. Wagner eine Darstellerin, die sich
bemühte, sich nicht allzusehr von der dumpfen
Trauer und Trostlosigkeit übermannen zu
lassen, die diese Gestalt wie ein schwerer dunkler
Mantel umhüllt. Herr Lackner, der Vater,
war in seinen Tönen wohl etwas zu stark, Herr
Kramer als Oberst der Kürassiere korrekt,
streng, kaltblütig, auch da er an der Leiche der
von ihm ermordeten Frau steht. Onno und
Klitsch, die beiden Leutnants, Fräulein
Bukovics, das Mädchen, das sich verliert
und nimmer findet, sowie die übrigen fügten
sich gut hinzu. Das Haus war voll — ein an¬
genehmes Bild in diesen schlechten Theater¬
zeiten — und sparte nicht mit dem Beifall.