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18. Der einsane Nen
Die Schaubühne
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Grahm in Wien
M
Die Institution der berliner Gastspiele in Wien ist nun etliche Jahre
alt. Aber sie bedeutet heute für uns und für die Gäste wesentlich andres
als in den ersten Zeiten. Mehr und weniger. Als Brahm kam, schien alles an
seiner Kunst Prinzip zu sein, neue Wahrheit, Verkündigung. In seinen
Vorstellungen sah man immer nur die neue Schauspielerei, niemals die
großen Schauspieler. Die eminente Wirkung lag zwischen den Künstlern,
im gleichen Ton und Ebenmaß des Ganzen, nie bei dem oder jenem.
Naturalismus — die grundsätzliche Gleichwertigkeit der künstlerischen
Elemente, das Gesamtwerk als geordnete Auswahl treu nachgeahmter
Wirklichkeiten. Diese unvergleichliche, restlose Vereinigung eines dichterischen
und eines darstellerischen Stils, die für einander, durch einander ge¬
schaffen und geformt worden waren, überwältigte natürlich auch den
hiesigen Geschmack, der sonst doch, verwöhnt und verblendet, nur sich
selber kennen will. Man spürte wohl, daß hier mehr als der Zufall
eines wirksamen Regie=Einfalls, mehr als die besondere Art einzelner
dramatischer Begabungen, daß hier eine ganze große, zeitbestimmende
Weltanschauung sich durch Literatur und Schauspielkunst hindurch ver¬
kündete, den ausgesuchten Fall und das Individuum weit hinter sich
lassend und nur durch ihre eigene machtvolle Einheit bedeutend. Diese
geistige Einheit war selbst für unsre Theaterwiener, die nur sinnlich er¬
fassen und aufnehmen wollen, im Zusammenspiel der Brahmschen Leute
kräftig genug verkörpert. Die allgemeine Begeisterung übersetzte sich
denn auch ihr Motiv ganz ins Gegenständliche und schwärmte lediglich
von Ensemble und ausgeglichener Gesamtwirkung, wo sie doch, ohne es zu
wissen, vor dem beredten Ausdruck weit tiefer wirkender Gedankenkräfte
erschauert war. Das hatte Bra i vermocht, als er zum ersten Mal mit
seinem Theater bei uns erschie. dem leichten, haltlos frohen, geistig
unregsamen Wiener durch die starte Suggestion seiner Kunst doch wenigstens
ein Gefühl von der Schwere und Traurigkeit des resignierten Materi¬
alismus aufzuerlegen, der diese Literatur und diese Schauspielerei mit
sich — und als einen Teil seiner selbst — heraufgebracht hatte.
Nun sind die Dinge aber vielfach anders geworden. Das Drama
ist vom Naturalismus weg, der ihm sein Wichtigstes und Innerstes, den
menschlichen Willen, zu verkümmern oder gänzlich aufzulösen drohte.
Die Schauspielerei, in andre Beziehungen zu ihren Funktionen gebracht,
mußte anders werden. Galt es früher als Höchstes, der vollen Realität
einer Figur ihre allseits ausgeprägte, dem Leben des Tages eingepaßte
Erscheinung zu geben, so war für den Ausdruck der neuern dramatischen
Menschen schon eine gewisse Idealität unerläßliche Bedingung; ein selb¬
ständig empfundenes und persönlich betontes Maß an freiem Willen, ein
unverkennbarer innerer Rhythmus, der nur intuitiv miterschaffen, nicht