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18 Der einsane Neg
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Die Schaubühne

aber fleißig beobachtet und nachgebildet werden konnte. Um es an fa߬
lichen Beispielen zu zeigen: Der Fuhrmann Henschel mag, die nötige
Urkraft und Breite der schauspielerischen Begabung einmal vorausgesetzt,
ganz vom Regisseur und vom Requisitenmeister ausgearbeitet werden:
er ist echt, wenn Kleidung, Stiefel und Peitsche mit dem Dialekt und
den Bewegungen übereinstimmen; er ist gut, wenn ihn auch in den
Szenen der Wut und der Verstörung Kraft und Schwere nicht im Stich
lassen; für den Schauspieler ist es eine rein psychische und nur für den
Regisseur eine stilistische Frage. Cajus Duhr (Bahrs „Meister“) hingegen
ist ohne tieferes Verständnis für die gefährliche Größe dieses über¬
menschlichen Willens nicht zu spielen; ist nicht zu spielen, ohne daß der
Schauspieler, kraft seines eigenen Einfalls, den Ton und die Geberde
findet, die seinen besondern physischen Mitteln einen unzweifelhaften
Ausdruck dieses tragisch schönen Dünkels ermöglichen. Oder: Der
Rheder Bos steht mit seiner ganzen Persönlichkeit einwandfrei auf der
Bühne, wenn es dem Schauspieler gelingt, unausgesetzt und
überzeugend brutal zu sein. (Ich denke hier zunächst an
Bassermanns prachtvolle Leistung, erwähne aber als Beweis, daß ich erst
kürzlich den Rheder Bos von einem nicht sehr verständigen Dilettanten,
der psychologischen und stilistischen Erwägungen kaum zugänglich ist,
immerhin bühnenmöglich dargestellt sah). Der komische Souverän im
„Tal des Lebens“ dagegen muß von einer eigenen schauspielerischen
Phantasie vorgezeichnet und den ganzen Abend lang vom immer
lebendigen, reich und frei quellenden Witz des Künstlers getragen sein.
Ich spreche, wohlgemerkt, nur von Rollen, nicht von Dramen; und diese
Gegenüber stellungen enthalten keinerlei literarisches Urteil.
So war schon bei einem frühern Gastspiel unter Brahm — es
mögen jetzt drei Jahre her sein — die Linie der Entwicklung vor¬
gezeichnet, die den Schauspieler von der naturalistischen Selbstent¬
äußerung zu den Aufgaben der freischaffenden Phantasie, zu den
Problemen führen mußte, deren Lösung die künstlerische Individualität
nur in sich selber und nicht beim Regisseur finden kann. Nun haben
wir also dieses Deutsche Theater von damals, das jetzt Lessing=Theater
heißt, merklich verändert wieder herbekommen. Ich urteile da natür¬
lich nur vom wiener Eindruck aus; wie sich diese Dinge der stetig mit¬
gehenden Beobachtung der Heimischen darstellen, geht mich nichts an.
Uns wird immer nur die letzte Auslese einer jeden Etappe vorgezeigt,
und so muß uns natürlich alles, was im Prinzipiellen anders geworden
ist, um so markanter, vielleicht auch bedeutungsvoller, als es sollte,
erscheinen.
Von selbstlosem Zusammenspiel, idealer Echtheit und Einheit, und
wie sonst die Formeln naturalistischer Begeisterung heißen, war diesmal
garnicht viel die Rede. Der Einzelne wurde als Einzelner genommen