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Sonnabend,
4
10. Februar 1912.
Kittag
mal arbeiten müssen. Das Idyll ist vorüber,
gewaltige Störung seiner Ruhe, ließ sich aber
es genügt nicht mehr am Vormittag anzufragen,
schließlich doch mitreißen und wurde zum Schluß
wie der Vorverkauf ist und bei der Theaterzettel¬
ganz enthusiastisch.
druckerei den alten Auftrag zu prolongieren.
H. W. Draber.
Man wird sich um etwas Neues umsehen müssen.
Ja, das Leben ist schwer! . . . Das Stück wird
also abgesetzt, das heißt, es kommt vorläufig in
den Sonntagnachmittagsspielplan, und man geht
Das Theater, das
an das große Wagnis einer neuen Premiere.
Gibt es einen Durchfall, dann kommt rasch die
wir brauchen.
nächste Premiere und so weiter fort, bis ein
ausnutzbarer Erfolg erjagt ist. Im Archiv indessen
Ein Mahnwort an die Direktoren.
liegen die abgespielten Stücke, in den Garderoben
verstauben die Kostüme, in den Magazinen
Die Klage unserer Bühnenleiter, daß die Ge¬
vertrocknen die Dekorationen all der vielen
schäfte nicht mehr so gut gehen, wie in früheren
Werke, die man im Laufe der Jahre
Jahren ist nicht rein lyrischer Art. Man nennt
aufgeführt, die man ausgepreßt hat, und
auch Gründe. Da ist erstens: der Kientopp, zwei¬
die nunmehr ihr Leben in der — Literatur¬
tens: das Vereinsbillett, drittens: die böse
geschichte weiterführen mögen. Für das Theater
Kritik und viertens: die Unfähigkeit der Drama¬
der Gegenwart sind sie gestorben. Man kann
tiker, ordentliche Zugstücke zu schreiben. Da
also sagen: die Werke, die den größten Erfolg
liegt der Hund am tiefsten begraben; es gibt
hatten, haben das kürzeste Leben. Mißmutig
keine „richtigen“ Zugstücke mehr. Und wenn ein
stehen die Direktoren an den Gräbern ihrer
Theater nicht in dem Glücksschwung ist, ein Stück
mindestens zweihundertmal hintereinander auf¬
großen Erinnerungen und grollen dem Geschick,
das nicht auf Kommando neue Attraktionen
zuführen, d. h. so lange zu spielen, bis die
Schauspieler vollkommen verblödet sind und bis
sendet. Ihr Blick irrt in die Ferne. Ins Nebel¬
das Werk durch dritte, sechste und dreizehnte
heim. Ihre Dramaturgen forschen in Manuskripten
esetzung sein Gesicht bis zur totalen Entstellung
nach Möglichkeiten, die Schauspieler langweilen
verändert hat, wenn dieser Idealzustand, dieser
sich oder beneiden die Kollegen an andern, glück¬
Traum aller Theatergeschäftsleute, aller Agen¬
licheren Theatern, die „Bombenrollen“ zu bieten
ten und Stückevertreiber, keine Verwirklichung
haben.
findet, dann hole der Teufel das ganze Geschäft!
Die hypnotisierende Gewalt der Zugstück=Idee
Das ist selbstverständlich geworden wie das
läßt den Gedanken gar nicht aufkommen, daß es
A BC; auf ein utopistisches „Zukunfts“=Zug¬
wohl nützlicher wäre, statt einem Phantom nach¬
stück hin werden Theater gegründet, bilden sich
zujagen, den Schatz des Archivs zu heben. Daß
man ein teures Personal nicht herumlungern
Aktiengesellschaften; die Möglichkeit, ein Kassen¬
läßl, daß man es mit der Fülle des „Lagernden“.
stück zu schreiben, das die gesamte Produktion der
beschäftigen kann, daß man in regelmäßiger,
anderen überrennt, ist das Stimulans unserer
fleißiger Arbeit aus der Literatur der letzten
berufsmäßigen Dramatiker. Es wäre nicht ohne
zwanzig Jahre schier ohne Kosten ein Reper¬
Reiz, an ganz bestimmten Kennzeichen ihrer
toire aufbauen könnte.
Werke nachzuweisen, wie systematisch „auf Zug¬
Ein Repertoirel
stück“ angelegt die ganze Arbeit ist, wie es schon
mit
Ja, was ist denn das eigentlich? —
beinahe eine Technik des Serienstücks gibt,
Vom Kgl. Schauspielhause und vielleicht von
einer fast erlernbaren Spekulation auf die
den Schillertheatern abgesehen, wissen ja die
Schwächen und Neigungen des breiten Publi¬
Theaterdirektoren gar nicht mehr, was ein Re¬
kums.
pertoire bedeutet. Sie haben vergessen, daß ein
Theter durch Mannigfaltigkeit, durch die konse¬
Aber das steht auf einem anderen Blatt. Ich
quente Pflege der erprobten dramatischen Litera¬
bin auch durchaus nicht so töricht, von den Direk¬
tur ungleich verdienstvoller wirken kann als durch
toren zu verlangen, daß sie eine Durchfallserie
die fanatische Jagd nach dem Neuen. Die junge
von dreißig Stücken einer Kette von dreißig Auf¬
und jüngste Generation kennt nur aus der Lektüre
führungen eines und desselben Werkes vorziehen
das Beste von Hauptmann und Schnitzler. Vom
sollen. Nein, das gehört ja zum Einmaleins des
Hörensagen weiß sie, daß es einmal eine prächtige
Theaters. Und das Streben nach dem äußeren
Aufführung der „Weber“, des „Friedens¬
Erfolg ist so alt, wie das Theater selbst. Aber
fests“, des „Einsamen Wegs“ und des wun¬
so ganz allein auf das Zufallsglück eines Jahres¬
dervollen „Ruf des Lebens“ gegeben hat.
Schlagers haben die Berliner Bühnen noch nie
Was bekommt die neue Generation (Publikum
irre ganze Existenz gestellt wie jetzt. Lange vor
und Schauspieler) vom Besten unserer neuen
der nun vollendeten Amerikanisierung unseres
Literatur zu sehen? Wo ist Schnitzlers
Theaterbetriebs war die Zugstück=Sehnsucht im
„Schleier der Beatriec“ hingeraten, wo¬
Lande und begann bereits die Arbeitsmethode
hin Hofmannthals „Abenteurer und
der Bühnenleiter zu bestimmen, ehe sie noch die
die Sängerin“? Wo sind Hartlebens
einzige Tendenz war. Brahm hat die „Weber“
Komödien geblieben?
zum Dauerstück gemacht, neben dem alles andere
Was sieht ein Fremder vom Ruhm der
versinken mußte, oder gar nicht erst aufkommen
deutschen Bühne? — Was gerade das Zufalls¬
konnte; später kam es ebenso mit der „Ver¬
glück eines Erfolges bietet. Dann und wann
sunkenen Glocke“, mit dem „Johannes“ usw. Nun
gibt's ja wohl eine Neueinstudierung; aber auch
ist es ja selbstverständlich und kein Wort bleibt
nur, um eine kleine Serie herauszuschinden.
darüber zu verlieren, daß ein Direktor seinen Er¬
Zum Aufbau eines Repertoires, eines wirklich
folg ausnutzt, so lange es eben geht. Das ist na¬
wechselnden, die dramatische Literatur ver¬
türlich, denn er will ja sein Geschäft machen und
anschaulichenden Spielplans fehlt auch der
der Autor seine Tantiemen haben. Ist das Stück
kleinste Wille. Fehlt mehr: die Idee. Zwar
abgespielt, dann verschwindet es, und ein neues
hat Brahm versucht, vergangene Ruhmeszeiten
Zugstück kommt dran. Oder soll vielmehr an
in einem Ibsen=Zyklus neu erstehen zu lassen,
die Reihe kommen. Hier bin ich nun beim
und es ist ihm ja auch gedankt worden; er holt
Thema.
dann und wann ein altes Hauptmann=Werk aus
Also: die Kassenausweise haben dem Direktor
der Bibliothek und läßt es aufführen, aber das
eines Tages gezeigt, daß die Anziehungskraft des
sind nur sporadische Liebesgaben. Sein Theater
erfolgreichen Werkes nachgelassen hat, daß selbst
in eine Bühne mit großem und wechselnden Re¬
die Riesenstadt Berlin kein Publikum mehr her¬
pertoire umzuwandeln, darauf steht nicht sein
geben kann, um weitere fünfzig oder hundert
Sinn. Er verschmäht es, ein Theater zu haben,
Vorstellungen zu ermöglichen. Also man wird
mit schwerem Herzen „absetzen“, und wieder ein=] das fast alles von Hauptmann, das Beste von