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17.4. Maricnetten zyklus
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Die Schaubühne
stehen — große Andenken an eine Zeit, da man bis hierher geirrt war
und nicht weiter wußte. Indessen hat sich aber das Drama wieder aufs
Dramatische besonnen, bricht Willen an Willen, stellt Menschen gegen
Menschliches, gegen erkennbare Schicksale, in Bestimmungen, deren idealer
Zielpunkt in dieser beseelten Welt gefunden ist. Ein kleines Mißtrauen
mag immerhin zurückbleiben. Zweifelnde, weltauflösende Erkenntnis
überschleicht das sichere, weltordnende Gefühl. Aber das sind Reizbar¬
keiten des Geistes, stille Mahnungen der Logik, die in Ironie und Witz
entbunden werden können. Die große Bewegung des Gefühls, die
Kräfte, die zum Ganzen wirken, bleiben unangetastet. Bei den raffiniert
Gescheiten, deren Intelligenz auch im Fieber der künstlerischen Empfängnis
wacht, ist diese scharfe Oberstimme der kontrollierenden Logik am häufigsten
und am deutlichsten vernehmbar: der Esprit in den Komödien Wildes,
die Ironie bei Wedekind, die versteckten Irreführungen bei Shaw.
Auch Arthur Schnitzler gehört hierher. Sein erwägender Verstand
geht immer neben dem schöpferischen Instinkt einher, scheint sogar an
muncherlei Stellen die Leitung zu übernehmen. Aber gerade darum,
weil er oft die heikle und gewichtige Mission hat, den empfindlichen,
leicht verwischbaren Einfall auf seinen Wegen vorwärts zu bringen, wird
er nur selten zum kritischen Störer. Er stellt die rechtmäßige Existenz
und den unmittelbaren Willen der dramatischen Personen nie in Frage.
Nur hier und da scheint er so zu tun: in den Einwürfen des Schrift¬
stellers im „Zwischenspiel“. Aber auch da nur mit vorsätzlicher Bescheiden¬
heit, als leicht entkräfteter Gegner, indem er mit Absicht den geringern
Standpunkt einnimmt, dem sofort der höhere antwortet; er bezweifelt
sozusagen von unten hinauf, nicht von oben herab. Gefährlicher ist dieses
fragende Eindringen in die Wirklichkeit seiner eigenen Personen schon im
„Paracelsus“, wo ein Wille den andern spurlos verschlingt, ein Gewissens¬
inhalt vor aller Augen auf der Bühne fabriziert, gleichsam in der Re¬
torte des Experimentators hergestellt wird, zum anschaulichen Beweis,
daß ein inneres Schicksal auch künstlich erzeugt werden kann.
Daraus ist zu erkennen, daß Schnitzler, der klug überlegene
Logiker, auch vor dieser letzten, außerdramatischen Kritik am tatsächlichen
Bestand des einzelnen Willens nicht Halt machen kann. Aber da er wohl
selber spürt, daß sein dramatischer Trieb besonders zart, ja ein wenig
blutarm ist, so behütet er ihn, wo er kann, vor den Angriffen seines
Witzes. Es ist nun kaum zu denken, daß dieser feindselige Verstand,
der sich so reich und lebendig fühlt, reicher und lebendiger fast als die
menschenbildende und problemebauende Kraft des Dichters, sich ganz zum
Schweigen bringen ließe. Darum sind ihm — aus instinktiver Übung
oder nach überlegtem Plan? — im Gesamtwerk Schnitzlers seine beson¬
dern Grenzen scharf gezogen. Er hat sein eigenes Gebiet, abseits vom
lebenumhegenden Reich der feinen und wichtigen Probleme, die zwischen
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Willen und Gewissen gesponnen sind. Dort drüben mag ir sich nach
Gelüsten tummeln und seine scharfen Zähne an der Giftigkeit der allzu
irdischen Dinge erproben. In „Paracelsus“ also sing es an, wo das
Gewissen und die Treue zernagt und der freien Verfügung entzogen
worden sind. Dann taucht diese selbstmörderische Dramatikerlaune in
„Literatur“ wieder empor; hier schon mit einem starken Bewußtsein ihrer
Funktion, indem sie gewisse künstlerische Gebilde als einen Mißbrauch
am Leben denunziert. Das richtige hohnvolle Satyrspiel zu den wirklich
„Lebendigen Stunden“. Der Satz: „Wer einen „Nero“ schreiben will,
der muß Rom doch wenigstens innerlich angezündet haben“, ist ein grau¬
samer Künstlerwitz, in dessen grundlose Tiefe der psychologische Kredit
vieler, vieler Dichter auf Nimmerwiedersehn zu stürzen droht. Nun,
ganz so bös ist es wohl nicht gemeint. Denn der dieses Wort im Stück
ausspricht, sagt es nicht etwa, weil es seine heilige, wenn auch törichte
Überzeugung, sondern weil es seine notwendigste Lüge ist. Er kann
(künstlerisch) sonst garnicht leben; er fällt willenlos zusammen, eine leere
Puppe. Erst an dem Wort „innerlich“, an dieser Lüge von den unbe¬
grenzten Möglichkeiten geistig=seelischen Erlebens, zieht er sich mechanisch
wie an einem Draht empor, zappelt lustig herum, zündet auf seine un¬
gefährliche Art Rom an und schreibt gewiß noch seinen „Nero“. Er ist
durchaus ein psychologischer Wurstel; die erste richtige Marionette, die
Arthur Schnitzler erfunden hot.
Andre kamen nach Und jetzt sind drei dieser kleinen geistreich nach¬
denklichen Scheindramen zu einem Buch vereinigt. („Marionetten“ beis
S. Fischer, Berlin.) Darin ist sehr lehrreich zu verfolgen, wie die
künstlerisch=kritische Verneinung der Willenskraft und Willensfreiheit schritt¬
weise aus der Gebundenheit exakter Seelenforschung zur ausgelassenen
Wurstelidee befreit wird. Ich weiß nicht, ob diese Anordnung der drei
Stücke mit der Folge ihrer Entstehungszeiten übereinstimmt; aber ihrem
Verhältnis zur gemeinsamen Grundanschauung entspricht sie sicherlich.
„Der Puppenspieler“ unternimmt es noch, das Bild eines wirklichen
Menschen zu geben. Er wird vom fanatischen Glauben an seinen Willen
aufrecht gehalten und durchs Leben gelenkt. Aber der Wille selbst ist
ihm längst abhanden gekommen oder doch irgendwie entkräftet, vom
Schicksal zerschmettert worden. Um die toten Brocken spinnt er allerlei
stolzen Wahn, läßt seine Gedanken einsam und abseits wuchern und
treiben, setzt sie an Stelle von Taten. Er bildet sich ein, Schicksale
andrer anrichten und einrichten zu können; aber gegen sein eigenes
Schicksal hat er keine Wehr. Der Puppenspieler=Wahn hat ihn selbst zur
lebendigen Puppe gemacht. Unter Menschen, die noch das Geringste
wollen können — und wäre es nur ihr Kind erziehen und ihren Tisch
bestellen — ist sein Platz nicht. Seine unentbehrliche Lüge, die weiten
Worte, die er für seinen Willen eingesetzt hat, ziehen ihn wie mit mechat