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Marionettentheater in der „Fledermaus“. Die
moderne Kunst, die sich so vielfach um Dinge kümmert, die
sie nichts angehen, hat einmal das Richtige getroffen, als
sie sich mit dem Puppenspiele befaßte. Dieses, einst ein
wesentliches Anregungsmittel für das Volk — man weiß,
was ihm Lessing und Goethe verdanken — ist in der letzten
Zeit ganz in den Hintergrund getreten und höchstens
durch allerlei Grotesken, wie Fantoches, Théätre
tintamaresque,
ersetzt worden. Nun haben
sich
München
Künstler von Rang
Ignatius
Taschner und
Jakob Bradl
— zusammen¬
getan, um neue Marionettentypen zu schaffen, und gestern
nachmittags hat das von ihnen konstruierte moderne
Marionettentheater im Kabarett „Fledermaus“ mit zwei
Komödien debütiert. Die erste, „Der tapfere Cassian“ stammt
von Artur Sech#####e und nennt sich ein Puppenspiel.
Es ist eine scheinbar nachdenkliche und tiefsinnige, in
Wahrheit aber phantasielose, verdrehte und sinnleere
Geschichte von
einem Maulhelden, einem Ka¬
pitän Fracassa,
der einem schwärmenden Liebhaber
mit einem Schlag' Geld, Geliebte und Leben nimmt. Der
geschraubte Dialog der langweilig ernsthaften Komödie ist
geradezu ein Hohn auf das Puppenspiel. Ueberhaupt hat
„der tapfere Cassian“ zur Marionettenbühne nur diese eine
negative Beziehung, daß er für das große Theater denn
doch zu dumm ist. Vielteicht bekommt Schnitzler den
Bauernfeld= oder Schiller=Preis dafür. Das zweite Stück
war endlich das einstige echte Puppenspiel: „Das Eulen¬
schloß“, ein vieraktiges Zauberdrama von Franz Graf Pocci.
Graf Pocci, Zeremonienmeister und hernach Musikintendant
am Münchener Hofe unter Ludwig I. und Max, war ein
kunstgewandter, erfindungsreicher Mann, Zeichner, Musiker
und Poet zugleich, dessen liebenswürdiger, humorvoller
Geist namentlich der Jugend viel Ergötzliches widmete.!

Hieher gehört auch sein Puppenspiel „Das Eulenschloß“,
in dem Kasperl einen zum Uhn verwunschenen Ritter unter
mannigfachen Abenteuern erlöst. Phantastische Zaubereien,
drollige Situationen, Kasperl als Minister am Hofe, sich
unausgesetzt blamierend — das gibt für die Jugend
und auch für andere nicht blasierte Gemüter
Stoff zum Totlachen. Mit Gesang und melodramatischer Be¬
gleitung weiß Pocci obendrein immer Stimmung zu machen
und sein Humor kommt dem gesunden Sinne entgegen. In
der simplen, naiven Kasperliade des Grafen steckt hundert¬
mal mehr Erfindung und dichterischer Wert als in der
anspruchsvollen Schalrednerei des Herrn Schnitzler. Die
Puppen nun, die Taschner und Bradl entwarfen, sind Meister¬
stücke der Charakteristik: welch' plebejisch dumme Verschlauen¬
heit in den Zügen des Kasperls, welch' vertrocknete Mienen
der Staatsräte, die sich von den Physiognomien der
Lakaien nur durch ein paar feinere Linien unterscheiden.
Beim „Cassian“ allerdings mußte sich Meister Taschner auf
Treue des Kostümes des XVII. Jahrhundertes beschränken
— oder hätte er aus den albernen Figuren Schnitzlers Typen
machen sollen? Ein Nachteil scheint es zu sein, daß die
Figuren so winzige Dimensionen haben. Sie sind derart
klein, daß man ihre Einzelheiten nur auf
ein paar
Meter Distanz unterscheiden kann, also
nur auf
ein
kleines Zimmer berechnet. Auch
sollte es
möglich sein, die Technik ihrer Bewegung vollendeter,
richtiger und reicher auszugestalten, wie dies ja schon oft
gagewesen ist. Die Dekorationen Bradls und Salz¬
manns, der Blick auf die Stadt im Cassian, die Ruine
des Eulenschlosses, der reiche Ministersaal, das modernisierte
Eulenschloß, sind kleine Meisterstücke. Aber — trotz aller
dieser künstlerischen Vorzüge fühlt man ein bischen Heim¬
weh nach den plump angestrichenen, derb und drastisch
charakterisierten Holzfiguren des alten deutschen Puppenspieles,
das dem naiden Volksempfinden entsprang. Noch heute be¬
gegnet man ihm in den deutschen Dörfern, noch heute hört
man dort die Geschichte von der edlen „Genofeva“ und dem
„Dr. Faustus“, genau so wie sie Lessing aufzeichnete und nach
ihm Goethe verwendete. Wäre es nicht viel klüger, statt des
albernen „Cassian“ eines dieser urechten Puppenspiele zu
geben, die Jahrhunderte erfolgreich waren? Leider ist in
dem neuen Marionetlentheater die Sprechdarstellung ganz
unzulänglich. Da hat nämlich einer, wie der Komödie¬
zettel sagt, „die künstlerische Leitung“. Und der verdirbt
natürlich alles und bringt jede Ursprünglichkeit um. Hätte
man ein paar Leute aus einer Marionettenbude genommen,
die ihr Handwerk verstehen, die hätten den halb übertriebenen,
halb drastisch humorvollen Ton gewiß besser geteoffen.
Welches Interesse man der Sache entgegenbringt, bewies
das distinguierte Zuschauerpublikum, in dem man neben
zahlreichen Künstlern auch Minister Dr. Geßmann und
die Abgeordneten Axmann und Sturm sah. Man war von
dem anmutigen und harmlosen Spiele befriedigt.
L.
Telephon 12.891.
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„UDSLNTER
I. österr. behördl. kenz. Unternehmen für Zeitungs-Ausschaltte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
un Berlin, Basel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christlanta,
Oenl, Kopenhagen, London, Madrid, Malland, Minneapols,
New-Vork, Paris, Rom, San rancisco, Rockholm, 8d. Petsss¬
burg, Torooto.
(geellessagsbe en Sedn
Ausschnitt aus:
Volkszeitung
von 1 31—
Im=unstsälon von Keller und Reiner hat sich das seit langem
projektierte, mit großem Inieresse erwartete Münchener
Marionetten=Theater etabliert. Es wurde kein Ge¬
ringerer als Artur=Schnitzler gespielt, dessen Tapferer Kassian sich
vorzüglich fü nee Darftellungsart eignet, obwohl bei diesem
Stuck nicht alles finnfällig zum Ausdruck tam. Viel mehr Glück
halte eine echte und rechte Kasperliade des Grafen v. Pocci, der
einer der ersten Stuckeschreiber für die alte Marionettenbühne war.
Als dritte Darbietung gelangte eine kleine Oper Serva Padrona
von Pergolesi zur Darstellung. Die Puppen selbst sind von ersten
Künstlern entworfen und geschnitzt. Sie verblüffen geradezu in
ihrer überaus realistischen Erscheinung; noch mehr aber staunte
man über die wunderbar feine Agililat