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16.1. Lebendige Stunden zyklus box 21/2
Telefon 12801.
Alex. Weigl's Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
Ausschnitt
Nr. 91
„OBSERVER“
I. österr. behördl. conc. Burean für Zeitungsberichte u. Personalnachrichten
Wien, IX. Türkenstrasse 17.
— Filiale in Budapest: „Figyelö“
Vertretungen in Berlin, Chicago, Genf, London, Newyork, Paris, Rom, Stockholm.
Ausschnitt aus: Frankfurter Oderzeitung
Frankfurt a. O.
vor 1/7 90.
Aus Berlin.
er und inhalelet. Die Firmer sid ie un.
lebendig und wächsern, wie der Titel, der ans
In seinem neuesten Einakter=Cyklus „Leben=] Panoptikum erinnert. Nicht, daß die Frau sündigt
dige Stunden“, welcher in dieser Woche über
und gesündigt hat, ist interessant. Wie sie zur
die Breiter des Deutschen Theaters ging, ist
Sünde kommt, das allein ist für den Dichter und
Schaigler zu seiner ersten Kunstform zurückgekehrt.
Psychologen von Werth.
On revient tonjours
Er scheint den Ehrgeiz
Gift und Dolch waren an dem Publikum des
zu haben, sich zum Einakter=Spezialisten auszu¬
Deutschen Theaters eindruckslos vorübergegangen.
bilden. Oder sollte in dieser ewig wiederkehrenden
Im dritten Einakter „Die letzten Masken“ wirkt
Art, kleine Scenchen zusammenzubasteln, das Geständ¬
Freund Hain auf natürliche Weise und erzielte
niß der Unfähigkeit zu Größerem, Weitausgreifendem
einen stärkeren Erfolg. Die Scene spielt im Spital,
liegen? „Lebendige Stunden“ heißt legitimerweise der
welches Schnitzler, der Arzt von Beruf ist, genau
erste der vier Einakter. Richtiger würde man ihn „Tot¬
Für
studirt hat. Ein armer, vom Leben zerbrochener
geboren“ nennen können. Die Idee ist roh. Um
Kerl hat in der Todesstunde das breunende Be¬
den dichterisch veranlagten Sohn an der Entfaltung
dürfniß, dem Todfeind und ehemaligen Freund
seiner Schwingen nicht zu hindern, tödtet sich die
seinen Zorn und seine Verachtung ins Gesicht zu
opferfreudige, an schwerem Siechthum darnieder¬
schleudern. Beide sind Litteraten; der Sterbende
1 liegende Mutter durch Gift, weil sie zu merken ver¬
verkannt und ohne Erfolg, der Lebende, obwohl ein
meint, daß der Sohn die Last der kranken Mutter
fader Geselle, von rauschendem Triumph verwöhnt.
Abonn schwer empfindet. Das Opfer dünkt dem „genialischen“
Ein Geheimniß ruht in der Brust des Sterbenden:
Aboung
Sohn fast selbstverständlich. Die entgegengesetzte
Die eigene Frau des unverdient Berühmten hat
Auffassung vertritt ein alter Freund der Mutter.
dessen Werthlosigkeit erkannt und dem bescheidenen.
Das soi-disant=Drama besteht in einer Unterredung,
aber bedeutenderen Freunde zwei Jahre lang
welche die verschiedenen Meinungen des Sohnes
angehört. Das soll nun der in Glanz und Wonne
Inhülund des Freundes in einer gradezu trostlos nüch¬
Schwelgende jetzt erfahren, damit ein tiefer und
hlülternen Form entrollt. Alles in diesem Einakter
wollulklingt gemacht; es ist Schreibtisch=Problemdramatik
unzerstörbarer Schatten auf sein Leben falle, und
er den Sterbenden beneide. Aber der Edelmuth
des schlimmster Sorte. Keine Spur dichterischen Ein¬
und die Größe siegen. Als der arme Todeskandi¬
werd gehens, liebevoller Vertiefung in die Charaktere:
dat den sogenannten großen Mann in seiner Er¬
zwei hölzerne Figuren, mühsam herausgeschnitze bärmlichkeit vor sich sieht, bleibt er stumm. Er, der
und mit unmöglichen Farben bemalt.
vom Leben Besiegte, fühlt sich Sieger. Auch in
Auf diese jammervollen Männergestalten folgt diesem Drama, welches in der Gestalt des „großen
die „Frau mit dem Dolche“. Sie ist der ur¬
Schriftstellers“, die vsychologisch wahrste Fi¬
alte Typus der Ehebrecherin nach französischem
gur
der vier Einakter enthält, stören
Muster. In einem Museum, das sie als Rendez¬
Inkonsequenzen. Wird der edelmüthige, innerlich
vous=Platz benutzt, macht sie der Liebhaber auf die
so Großdenkende jemals, besonders in der Stunde.
Aehnlichkeit zwischen ihr selbst und einem alten
da alles Vergängliche zum Gleichniß wird, ein so
Renaissancebild: „Die Frau mit dem Dolch“ aus¬
aufbäumendes Rachegefühl empfinden? Theatralisch
merksam. Sofort schlägt es zwölf Uhr Mittags
und unwahr berührt auch ein Auftritt, in
und sofort träumt die Dame einen Renaissance¬
welchem
Schnitzler den Sterbenden, damit
traum, in welchem sie dem Gatten zu Liebe am
das Publikum das Geheimniß des alten Herrn
Arnostrand den Geliebten erdolcht. Während es
erfahre, die ganze Rachescene, um sie nachher
noch immer zwölf Uhr schlägt, wacht sie im Museum
ordentlich exekutiren
wieder auf und verkündet, trotz Dolch und Mord
zu können, einem Spital¬
genossen vorspielt.
im Traume zu Florenz, dem werbenden Geliebten an
Wie kann der feinsinnige
der Donau ein Stelldichein. Es wäre lächerlich, diese
Mensch, der so lange geschwiegen und die Ehre der
von ihm geliebten Frau des anderen gehütet hat,
Farce auch nur im entferntesten mit den tiefsinnigen
einem beliebigen Schwätzer diese Ehre preisgeben?
Gesetzen von der Seelenwanderung in Zusammen¬
Das wirkt direkt widerwärtig, und bei dem vornehm
hang zu bringen. Das Stück, welches mit einem,
geschilderten Naturell des Redenden unglaublich.
übrigens schon von dem bekannten schweizerischen
So wandelt sich selbst in diesem Min#aturdrama,
Dichter Widmann verwendeten Traum=Scenenwechsel
das ergreifend wirken konnte, die innere Wahr¬
zwischen Moderne und Renaissance arbeitet, und haftigkeit zum äußerlichen Effekt, der Seelenvorgung
dadurch einen Requisitenerfolg erzielt, ist vollständig zur Schausvielerei.