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16. 1. Lebendige Stunden Zyklus
Theater=Korrespondenz.
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heit sind, als Gewinnantheil von seiner Geschäftsbetheiligung, sondern er
bezieht sie auf seinen geistigen Werth und seine geistige Bedeutung für das
Volksganze. Bestärkt darin wird er durch die Aufmerksamkeit, die jedem
seiner Schritte von jeder Zeitung geschenkt wird: verreist er, wird's ge¬
meldet; kehrt er heim, steht's in der Zeitung; thut ihm der Kopf weh,
verdient ein Reporter 50 Pfennig mit der Nachricht; glaubt er einen Ge¬
danken zu haben, verkündet die Zeitung, er arbeitet an einem neuen Werk
von hoher Eigenart. Er lebt also in einer Welt vollkommenster Illusionen.
Uind das muß er, das ist auch sein Glück. Denn wie sollte er sich damit
abfinden, wenn er sich wahrheitsgetren sagen müßte: ob ich gute Stücke
schreibe, ob ich schlechte Stücke schreibe, wenn ich nur zugkräftige Stücke
schreibe, denn: Geschäft ist Alles.
Dazu kommt nun noch folgendes Mißverhältniß. Die Theaterläge,
das Theatergeschäft fordert jährlich eine Novität. Es gilt also, jährlich ein
Stück fertigzustellen. Als reelle Arbeitsleistung ist das sehr wenig. Als
Schreibarbeit ist ein Theaterstück bequem in zehn Tagen zu schreiben:
nehmen wir an, daß es dreimal umgearbeitet wird, so giebt das einen
Monat. Hat nun ein Dichter ein volles Herz, eine starke Phantasie und
ein zureichendes Können, so schreibt er in der That unter Umständen ein
Drama in vier bis sechs Wochen. Der Dichter — Dichter! — Grillparzer
hat das mehrfach bewiesen. Macht ihm das Problem innerlich zu schaffen,
kann er es sich nicht recht aus der Seele reißen, bedarf es einer großen
Vertiefung und Versenkung, dann braucht ein Drama oft wiederum viele
Jahre bis zum Fertigwerden. Der moderne Theaterschriftsteller aber hat —
so verlangt's das Geschäft — jährlich eine Novität rechtzeitig abzuliefern.
Sein Herz ist meistens ausgepumpt bis auf den letzten Blutstropsen. Die
Phantasie erschöpft sich in der Berechnung des Premierenerfolges. Das Können
ist Uebung und Rontine: er weiß halt, wie's gemacht wird. Nun geht's
an die Arbeit. Es ist kein Stoff da, es ist kein Gefühl da, es ist keine
Phantasie da; es besteht nur eine Nothwendigkeit. So ergiebt sich der
innere Zwiespalt. Den Segen der täglichen, regelmäßigen, reellen Arbeit hat
er nicht. Das berauschende Glück der ungerusen kommenden, überwältigen¬
den Konzeption wird ihm nicht zu theil. So grübelt er und quält sich —
um einen Einfall. Er zermartert seine Seele. Das fällt schließlich auf die
Nerven, die so wieso schon gepeitscht worden sind, um herzugeben, was das
Herz nicht mehr leisten kann. An Stelle des Gefühls tritt die Lanne,
natürlich unter dem Namen der Stimmung, der künstlerischen Sensibilität.
Am Morgen ist der Ofen schlecht geheizt, am Vormittag friert der Dichter,
sofort wird Befehl gegeben, die Koffer zu packen und Abends rollt der
Herr Dichter im Luxuszug dem Süden zu. „Meine Seele braucht Sonne.
Wärme, Glanz, Licht, Blüthen, Düfte — ich sterbe im kalten Norden.“
Für Goethe war seine italienische Reise das entscheidende Erlebniß seiner
Seele. Für den modernen Theaterschriftsteller ist eine solche Reise eine
von der Saison erforderte Schicklichkeit der Lebensführung, wenn nicht
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Preußische Jahrbücher. Bd. CVIII. Heft 1.