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16.1. Lebendige Stunden zyklus
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Max Martersteig, Vom deutschen Theater.
verstehen ist alles verzeihen“ nachgerade ein ästhetischer Gemeinplatz geworden ist, durfte
schon hoch eingeschätzt werden, weil eine seltene Kunst hier nicht das Gesehene ängstlich
abgeschrieben hatte, sondern das der Empfindung entstammende, dichterisch ersonnene
Gebilde mit so viel reizvoller und in den bescheidensten Linien und Farben gehaltener
Natur umkleidet war. Schnitzler kann uns wieder einmal auf das neidisch machen,
was Oesterreich, was Wien schon einmal in einer bei uns recht toten Zeit in seinem
Grillparzer vor den anderen Volksstämmen voraus hatte: das sinnliche Element in den dar¬
stellenden Künsten, das Vermögen, auch über die künstlichen Früchte den Reif zu breiten,
als wären sie eben vom Stamme gegriffen. Eine solche, im Volkswesen beschlossene Kraft
hätte in Oesterreich, unter den Krisen seines nationalen, wirtschaftlichen und kulturellen
Lebens sicher nicht so lange lebendig sich erhalten, wenn nicht trotz alledem die Ueber¬
lieferung gerade der künstlerischen und besonders der theatralischen Kultur in Wien eine
so reiche und durch mehr als ein Jahrhundert ununterbrochene Pflege erfahren hätte.
Nach dem Fiasko des neureichsdeutschen Naturalismus, trotz des Sturmkäutens und
Klügelns so vieler halb oder gar nicht talentierten Leute, bewährt sich auch hier der
konservativere Zug der Wiener Schule, die auf Schnitzler stolz sein darf, wie Schnitzler
auf sie stolz sein kann. Ihre Früchte haben den Reif der frischen Natürlichkeit —
aber sie haben auch meist ein Merkmal der Ueberreife, der beginnenden bösen Fäulnis
an sich. Man muß sie so legen, daß man das nicht sieht. Und das trifft ein wenig auch
auf Schnitzler zu. Einen nur bis jetzt, den man von allen Seiten betrachten kann, und
der an allen Stellen gesund ist, haben die Oesterreicher gehabt: Anzengruber. Anzen¬
grubers sittliche Robustheit zu Schnitzlers feinem Talent und wir bekämen vielleicht den
modernen deutschen Dramatiker, den wir so sehnlich erhoffen.
Den Handlungsinhalt der Schnitzler'schen Einakter soll man nicht erzählen wollen.
das Was ist da fast gar nichts; das Wie ist alles. Es sind eigentlich nur Situationen.
Im ersten (und schwächsten) Stück ist es der Augenblick, wo der Sohn erfährt, daß seine
Mutter freiwillig aus dem Leben gegangen ist, um ihm, dem nach Freiheit durstenden
Künstler die Bahn frei zu machen. Im zweiten Stück ist es der durch ein Bild blitz¬
artig suggerirte Traum eines großen, leidenschaftlichen und tragischen Erlebens, der sich
schicksalbestimmend für eine unverstandene Frau erweist, die nun auch die Tragödie mit
der heißen Leidenschaft einem frierenden Leben vorzuziehen sich rasch entschließt. Im
dritten Stück sind es die wie von höherer Macht herangerückten starken, konzentrierten
Empfindungen, die das Leben bestimmt, beglückt oder entstellt haben, die nun vor der
Todesstunde noch einmal in ganzer Kraft lebendig werden. Es sind hier die Idole, die
falschen, die unseligen Hänge, nach denen der Mensch als nach den „letzten Masken“.
(so heißt das Stück) nochmals mit ersterbender Hand greift. Und im vierten lustigen
Satyrspiel ist es die unfreiwillige Komik, die das Leben als witziger Künstler oft dann
zur Verfügung hat, wenn leichtsinnige, recht fehlerhafte, aber im Grunde doch moralisch
gar nicht zu belangende Menschen
— aus der Bohême Welt jenseits von Gut und
Böse — eine übelste Suppe sich eingebrockt haben. Lustiger und mit leichterem be¬
freienden Humor ist die Zigennerei der Allerneuesten, ist ihr der Moral sich entwindendes
klägliches Uebermenschentum noch nicht verspottet worden.
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