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16.1. Lebendige Stunden zuklus
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Hanns von Zobeltitz:
empfindend; sie ist eine Vollnatur, beseelt vom wechselnd gruseln und lachen macht; den Prinzen
heißen Drange sich auszuleben; ihr „Dasein ist von Usingen, das enfant terrible der Partei —
für Leib und Seele nur ein langes Ringen witzig auf aller Welts Kosten, auch auf die der
mit dem Niedergang gewesen“, und doch hat eigenen Person. Man diskutiert über alles mögliche,
sie „das Lachen nie verlernt“; sie ist in ihren während schon der Konflikt in der Luft liegt. Der
Worten oft unsagbar schwergründig, aber sie „liebt
sozialdemokratische Gegner Richards der ehedem
die Tragik nicht“; sie ist die beste Mutter, die
als theologischer Kandidat dessen Privatsekretär
verständnisvollste Tante; in ihr ist „nichts wie
war, hat im Wahlkampf nämlich Außerungen ge¬
Weiches und Inniges" für ihren Mann, den Grafen
than über das so wohl gehütete, von niemand
Michael Kellinghusen. Dabei hat sie diesen — einen
geahnte Verhältnis Beates zu Richard; nicht genug
braven, ehrenwerten, nicht genialen, aber an Geist
damit, hat er die in einem Provinzblättchen ab¬
und Körper gesunden Mann — vor etwa zwölf
gedruckte Rede allen irgendwie Beteiligten, auch
Jahren betrogen; betrogen mit seinem wirklich
dem Gatten, auch dem Sohne Richards, auch
gemalen Freunde Richard von Völkerlingk; hat
Frau Beate selbst, säuberlich mit Blaustift an¬
es auch nicht für geboten oder für anständig ge¬
gestrichen, unter Kreuzband zugesandt. Das für
halten, vor ihren Mann hinzutreten und ihm zu
Beate bestimmte Exemplar wird zwar vernichtet, und
sagen: wir können nicht mehr miteinander leben!
ihr Mann hat überhaupt alle ihm aus dem Wahl¬
Sie hat mit ihm weitergelebt, die beste Gattin,
kreise zugeschickten Drucksachen ungelesen ins Fruer
die sorgsamste Mutter, nachdem sie sich mit Völker¬
geworfen. Aber da hat Richards Sohn, Norbert,
lingk die Brücke von der Leidenschaft zur Freund¬
ein junger begabter Studiosus und Beatens be¬
schaft gebaut hat —
sonderer Schützling, eine Broschüre gegen das
Es ist etwas viel, was uns Herr Sudermann
Duell veröffentlicht; während der Unterhaltung
in dieser einer Gestalt gibt, mit der das ganze
über diese sagt er in der vollen Überzeugung, daß
Drama steht oder fällt. Etwas zu viel —
es sich um eine schmähliche Verleumdung handelt,
Es kommt mir durchaus nicht in den Sinn,
zu dem Grafen: „Was willst du z. B. mit dem
ihm in moralischer Entrüstung einen Vorwurf
Menschen thun, der jetzt bei dem Wahlrummel
darauf zu formulieren, daß er den Ehebruch wieder
dich und dein Haus so gröblich beleidigt hat?
einmal zum Angelpunkt der Handlung machte,
Vor die Pistole kannst du ihn doch nicht fordern —“
obwohl das Thema nachgerade etwas abgeleiert
und Richards aufgeblasene, eitle, thörichte Frau
ist. Aber so gewiß die Schuld — eine Schuld —
übergibt das an sie gerichtete Exemplar (in bei¬
zur Tragödie gehört, wenn wir nicht wieder das
läufig bemerkt der grobdrahtigsten Scene des
blöde Schicksal an ihre Stelle setzen wollen: s
ganzen Stückes) der von ihr bitter gehaßten Beate.
gewiß muß der Dichter doch auch das Bewußt¬
Damit wäre eigentlich die Angelegenheit bis zu
sein der Schuld zum Ausdruck bringen, aus ihm
dem Augenblick gelangt, in dem die Würfel fallen
heraus die Geschicke seiner Gestalten entwickeln.
müssen. Anstatt dessen fällt nur der Vorhang,
Dies Bewußtsein nun existiert für Herrn Suder¬
und erst im dritten Akt kommt es zu der ent¬
mann egentlich nicht. Seine Frau Beale ist zwur
scheidenden Seene, in der Graf Michael seine Frau
herzkrank geworden, aber das erscheint bei ihr
und seinen Freund fragt, ob denn eigentlich an
mehr als ein zufälliges organisches Leiden; in dem
der „Geschichte“ irgend etwas daran sei? Immer
entschwundenen Liebesrausch sieht sie nach wie
noch voll Vertrauen: „. .. daß zwischen euch bei¬
vor nur das süße Glück, ihr einziges Lebensglück
den nichts geschehen ist, was vor mir geheim zu
noch nach zwölf Jahren: „Die Sünde war mir
halten wäre, das weiß ich ganz alleine — aber
nur eine Stufe empor zu meinem Selbst, zur end¬
bei solch ’ner Geschichte kann immer aus jedem
lichen Erfüllung meiner Harmonie, die die Natur
Quark ein Strick gedreht werden.“ Beate und
mit mir im Auge hatte.“ Und dabei lebt sie
Richard hatten sich entschlossen, zu leugnen, um
dieselben zwölf Jahre hindurch mit ihrem nichts¬
ihrer Kinder willen, Norbert und Ellen, Beatens
ahnenden Manne weiter — diese innerlich so vor¬
Tochter, die sich lieben und heimlich verlobt sind.
nehme, feinfühlige, edle Frau
Als nun aber der Graf, der inzwischen dem
Im ersten Akt, in einer Exposition, die wie
Fraktionsführer sein Ehrenwort gegeben hat, er
immer bei Herrn Sudermann meisterhaft ent¬
werde dafür sorgen, daß die Partei durch die
wickelt ist, führt er uns in diese Verhältnisse ein.
ganze Sache nicht den mindesten Schaden nehme,
Die Gräfin Beate hat ihrem genialen Freund
der Herrn Meixner, den sozialdemokratischen Agi¬
Richard zu liebe ihren Mann zur Niederlegung
tator, wegen Verleumdung verklagen will — als
seines Mandats bewogen; der gute Michael reist
Graf Michael von Richard Völkerlingk dessen Ehren¬
selbst im Wahlkreis, um jenem zum Sieg zu ver¬
wort verlangt, daß es sich wirklich um eine Ver¬
helfen. Man wartet mit Ungeduld auf das Re¬
leumdung handle, da bekennt Beate. Denn, wie
sultat; Beate und Richard tauschen Erinnerungen
sie sagt: „Er wird jezt sein Ehrenwort geben und
aus, und wir erfahren dabei die Vorgeschichte,
wird dann nach Hause gehen und sich eine Kugel
bis sein Privatsekretär die Nachricht des Erfolges
durch den Kopf schießen —
bringt.
Hier liegt meines Erachtens der Punkt, in
Auch der zweite Akt spielt im Salon der
dem das ganze Drama zerbricht. Alles, was
Gräfin. Wir lernen einige Häupter der konser¬
weiter folgt, ist eine raffiniert aufgebaute, aus¬
vativen Partei persönlich kennen: Herrn von Bracht¬
geklügelte Scenenfolge ohne innere Wahrheit.
mann der als ihr Führer erscheint; Herrn
Was kann denn ein Mann wie Graf Michael,
von Berkelwitz, einen etwas karikierten Agrarier
so wie Herr Sudermann selbst ihn gezeichnet hat,
von der Art derer, mit denen etwa Herr Eugen
in den Anschauungen unserer Adelskreise auf¬
Richter die Leser der Freisinnigen Zeitung ab= gewachsen, durch und durch ehrenfest, wacker, kernig