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16.1. Lebendige Stunden zuklus
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Ma
Berliner Brief.
Wieder ist die Zeit der Erwartung gekommen. Der „beliebteste“ deutsche
Dramatiker der Moderne, wenn auch nicht der „erste“ wird vom Deutschen
Theater aus ein neues Werk in die Welt senden, das, wie es auch ausfallen mag,
in sämmtlichen Städten und Dörfern sämmtlicher Staaten deutscher Sprache aufge¬
führt werden wird. Vielleicht wird es sogar in das Französische übertragen werden,
um dem „Dichter“ auch in Paris neue Bewunderer zu werben. Hermann Suder¬
mann ist hier nach Gerhart Hauptmann, dem „ersten deutschen Dramatiker der
Gegenwart“, die beliebteste Person auf der Bühne. Man ruft ihn gerne, ja, wenn es
nur einigermaßen möglich ist, nach jedem Aktschluß. Er ist ja auch noch leichter „ver¬
ständlich“ wie der Verfasser der „versunkenen Glocke“ Sudermann's Mache ist im
Grunde aber durchaus kein Nachtheil für den Verfasser. Was liegt denn überhaupt
daran, daß es Mache ist und daß man diese merkt. Die Sudermannischen Stücke haben
„Schlager“ „Effekte“
manchmal verrathen sie sogar Bühnengewandtheit. Also,
sehr geehrter Herr Sudermann, seien Sie nicht nervös, es wird nicht schief gehen,
nein, es kann nicht einmal richtig schief gehen — das Publikum freut sich auf Alles,
was von Ihnen kommt, und sollte das neue Werk auch nicht ganz einwandfrei sein.
Also, nur frisch darauf los dramatisirt, auf daß in jedem Jannar der kommenden
Jahre ein neues Trauer= oder Schauerspiel den tüchtigen Künstlern des deutschen
Theaters Gelegenheit gebe, aus Nichts oder aus Wenig so viel wie möglich zu machen.
Die Berliner Theater sind äußerst premièrenträge geworden. Oder sollte wirklich
der „rothe Hahn“ das Gewitter bedeuten, das vorübergezogen ist, ohne einzuschlagen
und die jetzige Eintönigkeit an den Bühnen die Stille vor dem aufsteigenden Suder¬
mannischen Gewölk?
Im Berliner Theater gibt man mit bewundernswerther Geduld „Alt Heidel¬
berg“ und ab und zu die „Rothe Robe“ Wenn diesenur den Schauspielern wenig
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abwechselnde und nicht gerade geistreiche Auswahl nicht schadet! Sie müßten eigentlich
schon beinahe eitersüchtig werden auf ihre Kollegen im Lessingtheater, die
Skowronek's Erzeuguis „Das schwarze Schäflein“ aufführen durften. Das
einzige, was sie vielleicht tröstet, ist der lanwarme Erfolg, den dieser Verfasser, der
nicht ganz ungeschickt auf den für die Kunst so segensreichen Pfaden eines Felix
Philippi wandelt, zu erringen wußte.
Wer zur Zeit ein Stück sehen will, das litterarisch ernst genommen werden kann
und will, der sieht im deutschen Theater sogar einen Zyklus von solchen. Ja, wahr¬
haftig, die vier Einakter Arthur Schnitzler's halten sich merkwürdig lang! Die
„Lebendigen Stunden“ füllen die Stille zwischen Hauptmann und Sudermann
ganz gut aus. Die Erstaufführung erntete eine bemerkenswerthe Aufnahme, obwohl
der Applaus keineswegs ein grenzenloser war. Es war eigentlich zu verwundern,
daß man sich für die Einakter interessirte. Die „lebendigen Stunden besitzen“ doch zu
wenig dramatische Kraft, um auf Zuschauer zu wirken. Ausgenommen ist nur der
vierte und letzte Einakter, ein geistreichelndes und zugkräftiges Lustspiel. Die übrigen
Werkchen Arthur Schnitzler's, Dialoge, die sich wahrscheinlich besser lesen würden,
waren ebenso wie sein „Anatol“ nicht dramatisch genug, um sich auf der Bühne zu
halten. Die neue Einakterserie trägt ebenfalls die ausgesprochenen Merkmale des
Verfassers, sie ist wie die anderen kein leichtverdaulicher Leckerbissen für Leute mit
einem litterarisch empfindlichen Magen. Lebendige Stunden! Zwei Menschen reden
über eine Tote, der eine als Freund und alter Beamter, der andere als Sohn und
Dichter. „Wenn sie nur wieder herauskommen könnte in den Garten, die theuere
Tote“ meinte der Freund mit den grauen Haaren. „Wenn sie wieder sprechen würde!“
Lebendige Stunden waren es, die vergangen sind und nie wieder werden. „Ja“,
sagte er zu dem Dichter, „nicht einmal Ihr könnt sie festhalten, was ist denn Eure
ganze Schreiberei?“ Der ist anderer Meinung. Die „lebendigen Stunden“ wären ja