Faksimile

Text

S
16.1. Lebendige Stunden zyklus
box 21/2
Kunst und Litteratur.
Alle in dieser Rubrik erscheinenden Recensionen und Anzeigen sind, sofern kein Name oder keine Chiffre beigefügt ist, redaktionell
„Die Redaktion anerkennt keine Verpflichtung, alle ihr zugehenden Bücher zu recensieren oder auch nur mit den Titeln zu verzeichnen
Lebendige Stunden. Vier Einakter von Ar¬
Tod hinter jedem Bette winkbereit steht, fallen „die letz¬
thur Schnitzler. (Berlin, S. Fischer 1902.)
ten Masken“ von den Seelen der Menschen. Der lungen¬
Die in der ersten Januarwoche im „Deutschen Theater“
kranke Schauspieler enthüllt sich in seiner ganzen kleinen
(Berlin) mit großem Beifall ausgenommenen vier Einakter
Gespreiztheit und der abgezehrte Journalist Karl Rade¬
Schnitzlers heißen: Lebendige Stunden. — Die Frau mit
dem Dolche.

macher deckt sein armes, stamm gewesenes Herz auf und
Die letzten Masken. — Litteratur.-
läßt den Trotz ausströmen, der sich gegen die Falschheit
Das letzte Stück ist ein kleines Lustspiel, die andern
des Schicksals aufgehäuft hat, und die Abgunst gegen alle,
haben ernsten Charakter. Am tiefsten greift Die letzten
denen es besser beschieden war. Rademacher fühlt sich
Masken“. Der vortreffliche Theaterbericht des Berliner
sterben. Vor dem Tode will er noch einmal dem Jugend¬
Tageblattes“ sagt über den Inhalt dieses Stückes:
genossen, dem berühmt gewordenen Dichter Alexander
„Hier ist Schnitzler vor allem der Meister diskreter
Weihgast sagen, wie er ihn durchschaue in seiner geistigen
und leise andeutender Kunst. Im Krankenhaus, wo der Hohlheit, und wie er ihn verachte wegen seiner unver¬
denten Eesoge. Er wit ihm sogar sein hantlicher Vin
zerstören, indem er ihm die Untreue seiner Frau verrät.
Das alles übt er sich vor dem schwindsüchtigen Schau¬
spieler wie in einer Generalprobe ein. Als dann aber
Weihgast wirklich erscheint, als Rademacher ihn mit dem
Hellblick des Sterbenden völlig durchschaut in seiner Auf¬
geblasenheit in seinem eitlen Geckentum, in seinem uner¬
schütterlich selbstzufriedenen Glücksgefühl, da empfindet
er der vielgeschundene Zeilenschreiber sein eigenes
Los nicht mehr so unerträglich. Die vollkommene Lüge
dieses Daseins entwaffnet ihn und stimmt seinen bitteren
Wahrheitsmut milde. Er schweigt und schweigend stirbt
er. Scenenführung des Stückes ist gewagt, aber sie löst
sich in diesem Schluß harmonisch und mit edler Wirkung
auf. Das Krankenhausmilieu ist ausgezeichnet definiert.“
Zur letzteren Bemerkung vom „Krankenhausmilieu“
fügen wir bei, daß der Zuschauer wenigstens mit im
Bett liegenden Patienten verschont wird, also in dieser
Beziehung besser dran ist als im „Fuhrmann Henschel“,
wo wir im ersten Akt die kranke Frau Henschel in ihrer
Matratzengruft zu sehen und zu hören bekommen. Und
neben aller Melancholie ist in Schnitzlers,Letzte Masken“
durch den köstlichen Provinzschauspieler, der in optimisti¬
scher Täuschung über seinen Zustand zu allen möglichen
Mätzchen aufgelegt ist, für den Humor feinster Sorte
bestens gesorgt
Den Inhalt der andern kleinen Stücke wollen wir
nicht verraten. Dramenbücher Schnitzlers werden ja ge¬
kauft, weil der Leser sich im voraus der geistvollsten
Unterhaltung sicher weiß, auf die er sich freut. Und
gerade in unserm Bern, wo der aus Geldmangel zum
tcostlosen Stillstand gelangte schöne Neubau des Theaters
uns an die schreckliche Auskunft zu gemahnen beginnt, die
man oft in Italien erhält, wenn man beim Anblick eines
nur halbvollendeten prachtvollen Gebäudes fragt, was
es
— un palazzo mai linito — („ein nie fertig ge¬
wordener Palast“); gerade bei uns, sagen wir, hat man
alle Ursache, wenn man mit dem modernen deutschen!
Theater in Zusammenhang bleiben will, die Theaterstücke
meisterhafter Bühnendichter wenigstens in Buchform zu
studieren und zu genießen. Das größte Vergnügen können
wir da unsern Lesern von dem Lustspielchen Litteratur“
versprechen, in dem der sportmäßige Wiener Adelige voller
gentlemanliker Lebensideale mit der Münchner Litteraten¬
boheme kollidiert, wobei jedoch der Zusammenprall ge¬
rabe durch das kluge Welbchen, das ihn verhängnisvoll
machen müßte, aber als Puffer zu dienen weiß, ungefähr¬
lich abgeschwächt wird.
Ueber „die Frau mit dem Dolche“ sagen wir nur,
daß hier durch den auch von andern Dichtern schon be¬
nützten Kunstgriff, ein Spiel der Gegenwart durch eine
eingeschlossene traumhafte Parallelhandlung zu unter¬
brechen, welche die selben Personen und dieselbe Situation
im Kostüm der Renaissance vorführt, eine jedenfalls
schöne Theaterwirkung erzielt wird. Endlich ist auch der
erste Einakter „Lebendige Stunden“ nicht ohne Tiefsinn,
die Handlung dabei aber ganz nur in den Dialog verleat#