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16. 1. Lebendige Stunden - zyklus
Marsa umfaßte seine Finger und sah ihn freundlich an. „Auch
„That er das? Und dabei wußte er nicht, daß Du wirklich
ich bin gerne mit Dir gegangen“ kam es halblaut über ihre Lippen.
ein Engel bist. Ah, der Elende!“
„Du bist ein guter Mensch, Archip.“
Sie drohte ihm, unter Thränen lächelnd, mit dem Finger.
Er wollte etwas erwidern, allein sie eilte schon davon. Still
„Schilt ihn mir nicht, Du!“
ließ er sich am Wegrain nieder und blickte unverwandt ins Weite.
„Du liebst ihn also noch immer?“
„Was ist das?“ murmelte er plötzlich und fuhr mit der Hand über
„Noch immer?“ Ihr Gesicht drückte maßloses Erstaunen aus.
Das kommt daher, weil
die Augen. „Ich glaube gar, ich — —
„Ja, glaubst Du denn, daß ich je aufhören könnte, ihn zu lieben?
sie mich einen guten Menschen geheißen hat. Das hat schon lange
Auch Du wirst Dein Weib noch immer im Herzen tragen.“
keiner mehr gethan. Ach, sehr lange nicht!" Und mit einem Mal
„Ach, was Du doch glaubst!" Er lachte gehässig auf. „Ich sage
sticg ein heftiger Zorn in ihm auf. „Dieser Grischa! Solch ein
Dir, von dem Augenblick an, als ich sie an der Brust eines an¬
Mädchen von sich zu stoßen! Wenn ich ihn jetzt hier hätte, würde
deren sah, war jedes Füntchen Liebe zu ihr in mir erloschen und
ich sicherlich abermals zum Mörder. Ach, und mit welcher Wollust
zwar so gründlich, daß ich sie nicht etwa aus Eifersucht, nieder¬
En
möchte ich ihm den Schädel einschlagen, diesem Strohkopf!“
schlug, sondern weil ich mich in meiner Ehre tödlich verletzt

lachte ingrimmig auf. „Und was für Glück solch ein Thor hatk
fühlte.“
Wie er geliebt wird!" Er brummte und knurrte noch eine Weile
Gegen Abend erreichten sie ein kleines Gewässer, eine Pfütze, die
vor sich hin und überhörte dabei ganz, daß sich ihm leichte Schritte
ein wenig abseits der Straße lag, und Marfa stillte gierig ihren
näherten, erst als eine weiche Stimme neben ihm sagte: „Dein
Durst mit dem trüben Wasser, nachdem Archip die schwache Eisdecke
Wunsch ist nicht in Erfüllung gegangen, Archip“ schrak er empor.
zertrümmert hatte. „Nicht wahr, hier rasten wir?“ sagte sie zu
„Wa—as sagst Du?“ rang es sich mühsam über seine Lippen.
ihrem Gefährten. „Meine Füße tragen mich nicht mehr.“ Sie
„Du bist also gekommen, um Abschied zu nehmen von mir, Deinem
kauerte am Wege nieder.
Reisekameraden? — Abschied?“
„Willst Du nicht, daß ich mich neben Dich setze?“ sagte Archip.
„So ist es“, sagte sie sanft und ihm beide Hände reichend, fügte
„Es wird Dir dann weniger kalt sein.“ Als sie aber beinahe hes¬
sie rasch hinzu: „Möge der Himmel Dich schützen und geleiten,
und
tig den Kopf schüttelte, murmelte er: „Nun, wie Du willst!“
Archip.“
auf
streckte sich, fest in seinen Rock gewickelt, jenseits des Weges
Er senkte den Blick. „Denk' zuweilen an mich!“ murmelte er¬
nicht
dem Boden aus. Er schlief bald fest und traumlos, aber
„Abends, wenn Du Deine Arbeit verrichtet hast — auch ich werde
„He,
lange. Eine leichte Berührung an der Schulter weckte ihn.
Deiner gedenken. Nie werde ich Dich vergessen, nie. Du hast ein
was giebt's denn?“ brummte er schlaftrunken und tastete suchend
Heim gefunden, ich wandere weiter auf öden verborgenen Pfaden,
mit der Hand seitwärts.
ein Einsamer — ein Ausgestoßener. Leb' wohl!" Er wandte sich
„Mich
„Ich bins, ich“ klagte eine Stimme an seinem Ohr.
rasch fort und ging.
fror so sehr, da kam ich zu Dir, um mich ein wenig an Deinem
„Leb' wohl!“ wollte Marfa rufen, aber sie vermochte es nicht
Körper zu erwärmen.“
Ihr Herz begangrasch und weh zu schlagen, ihre Augen feuchteten
„Ach, Du bists, Marfa! Komm nur ganz nahe heran. So!“
sich, ihre Lippenl bebien und noch einen letzten Blick auf den Wan¬
sagte Archip, der jetzt völlig wach war; und legte den Arm um das
derer wersend der sich auf der unbelebten, sich in ungewisse Fernen
Mädchen ihren Kopf an seine Brust bettend. „Aber was hast Du
verlierenden Straße doppelt einsam ausnahm, eilte sie plötzlich aus
denn? Du bebst ja am ganzen Leibe?“ setzte er erschrocken hinzu.
die Hälte des Bauern zu, bei dem sie sich veldingt hatte.
„Friert Dich so sehr?“
(Schluß folgt.)
„Ach ja — und dann — fürchte ich mich auch.“
„Vor wem denn? — Vor mir?“
Sie schwieg, aber ihr Körper bebte noch heftiger.
Runst und Wissenschaft.
„Mädchen, so wahr Du Deinen Grischa liebst, bei Deiner
Mutter könntest Du nicht sicherer ruhen, als bei mir“, sagte er
E. B. Deutsches Theater. Sonnabend, 4 Januar. Zum erster.
ernst, beinahe feierlich.
Male: „Lebendige Stunden“ von Arthur Schnitzler.
O Du! Ich danke Dir“, flüsterte Marfa und berührte flüchtig
Es war, wie schon im Vorberichte gesagt, kein einheitlich starker Erfolg,
wie ein Hauch, mit ihren Lippen seine Wange.
den sich des feinsinnigen Wiener Poeten jüngste Bühnenarbeit
Archip fühlte, wie ihm das Blut rascher durch die Adern zu
vorgestern in der Schumannstraße errang, aber es wurde doch
kreisen begann und er mußte sich gewaltsam bezwingen, um nicht
schließlich ein Erfolg, ein größerer sogar, als ihn nach den
den Mund zu suchen, der ihn geküßt hatte und den Leib nicht an
beiden schwächlichen Eingangsstücken selbst ein gutgläubiger Optimist
sich zu pressen, der sich zage an seinen schmiegte. Die ganze Nacht
noch um die Mitte des Abends erhoffen durfte. „Lebendige
über lag er wachend da, während Marfa, von seinem Arm um¬
Stunden“, der die Vorstellung einleitende Einakter, hat dem
schlungen, friedlich an seiner Brust schlummerte.
Gesamtcyklus nicht nur äußerlich seinen Namen geliehen, er schlägt zu¬
„Wie hast Du geruht?“ fragte Marfa des Morgens beim Er¬
gleich auch das Leitmotiv an, das, nur unklar und verschwommen
wachen und entwand sich ihm errötend.
freilich, in den drei folgenden Stücken wiederklingt. Aus dem
Er erhob sich. „Gut, Mädchen. Und Du?“
Gespräche eines jungen Dichters mit dem Freunde seiner jüngst
verstorbenen Mutter hört man's heraus. Mit brutaler Rück¬
„O, ich habe so schön geträumt!“ murmelte sie und legte die
sichtslosigkeit offenbart dieser jenem, daß der Tod der Mutter kein
Hand an die Stirn. „Grischa war bei mir und wir kosten mit ein¬
natürlicher war. Sie hat zur Morphiumflasche gegriffen, weil sie
Ihre Stimme erlosch und ihr Blick irrte mit
ander wie ehemals.“
sah, daß ihr Siechtum die Schaffenskraft des Sohnes lähmte. Die
düsterer Trauer über das öde Feld.
Enthüllung wirkt wohl für den Augenblick niederschmetternd auf den
„Komm!“ sagte Archip weich, aber bestimmt. „Laß uns weiter
jungen Mann, aber soll die Mutter sich nicht umsonst geopfert haben, so
gehen, damit wir das Dorf bald erreichen. Ich habe keinen Brocken
muß er nun alles daran setzen, das Große, zu dem sie ihm den Weg ebnen
Brot mehr in der Tasche und Du wirst hungrig sein.“ Sie nickte,
wollte, auch wirklich zu schaffen. So rafft er sich aus seinem Schmerze
und als er sah, daß ihr das Gehen schwer fiel, nahm er ihre Hand
auf, um fernerhin ganz dieser Aufgabe zu leben. Die These vom
in seine und summte mit halber Stimme ein Marschliedchen.
Rechte der Lebendigen gegenüber dem dem Tode Verfallenen, die hier
„Nicht wahr, dabei wandert sichs gut?“ sagte er nach einer
zur Erörterung gestellt wird, ist nicht neu, das Ganze eine endlose
Weile und sie lächelte dankbar zu ihm auf.
Abstraktion ohne jedes dramatische Leben. Geistreiche Gedanken über
Noch zweimal raste en sie, bevor das Dörfchen vor ihnen auf¬
den Zusammenhang von Kunst und Leben tauchen wohl hie und da
tauchte. Es war ebenso armselig, wie die ganze Gegend rings¬
aus der Wortfülle des Dialogs empor, aber die sie vortragen,
umher. Hinter den Zäunen der aus Holz aufgeführten Hütten bellte
sind fleischlose Schemen, keine Menschen mit frisch pulsierendem Blute.
hie und da ein Hund unwirsch und verdrossen.
So ist das Werkchen, so anspruchsvoll es sich auch giebt, nicht viel
„Vielleicht glückt es mir bei dem einen oder anderen der Bauern
mehr als eine Art Prolog, der seinen tiefern Sinn erst aus der Be¬
ein Unterkommen zu finden“, sagte Marfa zu ihrem Reisegefährten.
ziehung zu dem Folgenden erhält. Ein „Schauspiel“ im strengeren
Geh' aber noch nicht fort, Du, sondern setze Dich hierher an den
Sinne ist auch „Die Frau mit dem Dolche“ nicht.
Wegrain, es ist am Ende ja doch leicht möglich, daß niemand
Der Dichter gefällt sich in einem geistreichelnden Spiel mit schein¬“
— sie mußte lächeln, als sie sah,
Arbeit hat für mich und dann“
barem Tiefsinn, indem er an ein Thema rührt, das eher eine
wie hell es in seinen Augen aufleuchtete bei ihren letzten Worten.
novellistische als dramatische Behandlung vertragen hätte. Eine
„Das wünschest Du wohr gar?“ fügte sie fragend hinzu.
„Ja“, gestand er offen ein, um leiser fortzufahren: „Ich habe junge leidenschaftliche Frau trifft sich mit ihrem Verehrer
im Saale einer Gemäldegalerie, in welchem das Bild eines altitalienischen
soviel Freude gehabt an unserem Zusammenwandern.“
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