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16.1. Leendie Stunden#kus
Eindruck einer Idee oder eines Schauspieles. Soll ich Ihnen schliesslich
meine geheimsten Gedanken anvertrauen? Die Literatur einer Epoche ist immer
moralischer als ihre Moral. Kein Buch ist so lüstern wie die gewöhnliche
Unterhaltung, in der feinen Gesellschaft sowohl als auch beim Volke. Sie
F#rechen von der Jugend und den Gefahren, in welche Ankündigungen und
Zeitungsartikel sie stürzen? Hören Sie doch die Unterhaltungen dieser Gymna¬
siasten und Arbeiterinnen, wenn sie unter sich sind!..
Die lassen sich gar nicht wiedergeben. Doch gleichwohl ... gleich¬
wohl wird jeden Schriftsteller, der zugleich ein anständiger Mensch ist, arge
Unruhe quälen über die Verleitung zum Bösen, die von seinem Buche kommt.
Die Vernunft kann noch so schön reden: Es gibt in all diesem nichts Ver¬
führendes; es gibt nurdeinen klaren-iedanken, deine moralische Glaubwürdig¬
keit, deine genaue Lebenskenntnis der Vorwurf Sir Walter Scotts hat
auch die Stärksten schon gequält... „Ob es dennoch nicht anders kam“
fragen Sie sich immer und immer wieder —
bei einem Wesen von
schwacher Seele, bei einem Kinde, bei einem waffeulosen Geiste, der nicht
zu begreifen vermochte?“ Und das diewissen — von Natur aus unfähig
über sich selbst zu urtheilen wie zu entscheiden, ob es seibst al das bewirk:
oder ob es nicht nur ein gleichgiltiges Werkzeug war, zaudert, macht sich
verrückt wie der Kopf eines Liebenden.
Glauben Sie mir, gnädige Frau, und schlendern Sie auf einen Schriftsteller
nickt so sorglos den Vorwurf der Unmoral. Die sind nicht allzu häufig, die
gegen ihr Gewissen schreiben.
Meine Gegnerin antwortete nicht. Einige Augenblicke war ich sehr
stolz, sie so völlig zum Schweigen gebracht zu haben. Aber wie ich sie genauer
ansah, da merkte ich: sie hatte so lange nicht selbst reden können
sie schlief.
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Ne. 910
Die Berliner.
Mit dieser gemüthlichen Abkürzung bezeichnet man in
Wien die vortrefflich dressierte Truppe des Deutschen Theaters
in Berlin, die nun wieder den Wienern ihre vielen Künste
zeigt. Die Gastspiele begannen vor drei Jahren — genau
zu derselben Zeit, da die naturalistische Stuckherrlichkeit
die ersten Eisse und Sprünge zeigte. Herr Otto Brahm
wollte sein Publicum, das abzufallen drohte und inzwischen auch
abgefallen ist, durch rasch im Auslande gesammelte Weihrauch¬
opfer gläubig erhalten. Die Absicht des ausgezeichneten Theater¬
taktikers ist missglückt, weil sie nicht glücken konnte. Die Zeit
des consequenten Realismus ist um — lassen wir Herrn Brahm
seine Dichter begraben. Eine andere Mode ist aufgekommen, die
Moderne wurde unmodern. Man trägt sich heute nicht geschmack¬
voller als früher, nur anders. Und die feinen Leute gehen zu
einem neuen Schneider. Wenn sich Herr Brahm in den sieben
fetten Jahren genug zurückgelegt hat, kann man ihm Glück
wünschen. Künstlerisch war er jedenfalls nicht sparsam. Sein
Theater ist auf Sensationen gestimmt und ohne Repertoire. Neues,
das sich halten könnte, scheint es nicht für ihn zu geben. Er
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