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zeigte. Es wäre förmlich von schlimmer Vorbedeutung gewesen, hätte
der Beifall nach dem ersten Stücke der kleinen Tetralogie zu hoch
eingesetzt. Einen starken ersten Alt schreiben und dann sachte absallen.
das treffen auch unsere Antoren. Schnitzler macht das praktischer. Er
war nicht vergeblich Arzt und verabreicht die starken und stärkeren
Dosen vorsichtig. Die eigentlichen „Lebendigen Stunden“ sind nicht
mehr als eine treffende Diagnose. Ruhige, beinahe kühle Feststellung
Für
des Seelenzustandes, den ein und dasselbe Unglück bei verschiebenarlig ve
veranlagten Naturen bewirkt. Der Normalmensch und die Künstler
natur schöpfen aus einem und demselben Vorgange ganz ias.
heterogene Eindrücke. Der Dichter, dem die Mutter gestorben ist,
röstet sich, wenn er in freiem Schaffen Vergessen finden darf, das
Abon
leichter, als der alte Freund, dessen Herzen die Verblichene den
Abon
gahe gestanden und der für sein Weh kein anderes Ausdrucksmittel
als die Todtenklage findet. Den Normalmenschen dünkt der anders ; die
Inha besaitete Künstler unmenschlich, empörend; er versteht ihn einsach gen¬
blätlicht, kann und wird ihn auch kaum je verstehen. Dieser Gegensatz ung")
tliche
wocurst in dem ersten Stücke des Cyklus sehr geistreich aufgestellt, ist auch
Leben“
Mit¬
theilu'sychisch unbestreitbar, aber im Publikum, dessen überwiegende
Mehrheit aus Normalmenschen besteht, darf die These auf allen
träftigen Widerhall nicht zählen. Die Schaffenden im Zuschauer¬
raume fühlen, wissen, daß der Dichter eine unumstößliche Wahrheit
vor uns hinstellt, die Form, in der er es thut, ist untadelig, nobel,
vielleicht gar zu gut gekleidet; aber die Meisten im Saale
glauben nicht recht an sie, denn moderne Wahrheiten erscheinen
sonst nackt und handgreiflich auf dem Theater. Die Schnitzler'sche ist
nicht zum Greifen. Ludwig Hevesi hat in diesen Blättern vor genau
oier Wochen in einem Feuilleton — auch eine lebendige halbe
Stunde — über die Wiener Novität der Berliner Künstler ein¬
gehend gesprochen und uns nur karge Nachlese übrig gelassen. Das
erste Stück konnte auch hier keine andere Wirkung haben als in
Wien, aber es wäre Unrecht, zu behaupten, daß die erste der
„Lebondigen Stunden“ auf die Fortsetzung nicht neugierig gemacht
habe. Und die Fortsetzung war gut, besser, am besten. „Die Frau
mit dem Dolche“ erschien dem Publikum wie ein Capriccio, das es
ja auch ist; ein bischen verschwommen, ein bischen gesucht, aber
fein gezeichnet, die Schöpfung einer Künsilerlaune, die vom
Landläufigen um keinen Preis der Welt etwas wissen,
mag. Das Spiel mit Wirklichkeit und Vision ist exzentrisch, verstiegenf
aber der Geist eines Dichters schwebt darüber und verweist uns an¬
die unerforschlichen Geheimnisse der Frauenseele. Wer dem Psychot¬
logen, der die Lösung eines solchen Geheimnisses versucht, glaubt, hat
den Genuß davon; wer ihm nicht folgen kann, den bleibt immerhin
noch die Frende an szenischen Bildern und reizvollen Bersen.
Das Publikum sand an dem originellen Blendwerk
Gefallen und rief den anwesenden Dichter ein halb
Dutzend Male, mit ihm Frl. Irene Triesch; auch eine
Neue, deren Bekanntschaft als angenehm und werthvoll gelten durfte.
Sie war die visionäre Dame, die in zehn Minuten ein halbes Jahr¬
tausend wegzueskamotiren hat und sie machte dieses Herenstück —
leider wie die modernen Schwarzkünstler, ohne technischen Apparat —
interessant und mit starker schauspielerischer Intelligenz. Den Anbeter
gab Herr Kayßler; vortrefflich, so weit die Prosa
reichte, überhastet, kaum verständlich als der Vers sein
Recht verlangte. Die zweite Hälfte des Abends brachte
das allgemein Zugängliche, die wirkliche lebendige Stunde. „Die
letzten Masken“ schlugen durch. Das merkwürdige Spiel, das man
frei nach Lessing: „Wie ein Moderner den Tod gebildet“ nennen
möchte, ergriff die Leute und ließ sie nicht los. Der kostbare Ull des
mimenden Moriturus, die prachtvollen Charakterzeichnungen: der ver¬
kannte Journalist, den in der Todesstunde nach Rache dürstet und
dem schließlich „Alles alleseins“ ist, der windige Modedichter, die
Aerztetypen: das „lag“ den Zuschauern, daran hatten sie die große
Beifallsfreude und es kamen an die zehn Hervorrufe dabei heraus.
Gespielt wurde dieses Stück blendend. Herr Reinhardt, der
im ersten Viertel des Abends den Hofrath aus ehrlichem Gemüth
gesprochen hatte, spielte jetzt den sterbenden Journalisten erschütternd¬
gut; Herr Bassermann als posirender Literaturheld war
unübertrefflich; den armen Provinzkomödianten machte Herr Mein¬
hardt prächtig und dem Arzte gab Herr Hofmeister über¬
raschend natürliche Haltung und Rede. Ein Musterstück von
Schauspielkunst wurde auch in „Literatur“ gezeigt. Frl. Triesch, die
kästliche Münchener Witwe, die aus ihrer Vergangenheit literarische
Zukunft machen will, hatte den Humor und das Temperament für
die brillant gezeichnete Figur; Herr Bassermann brachte als
vornehm=beschränkter Zukunftsgatte einen förmlich verblüffend treuen
Typus aus dem high life, und Herr Rittner, der im ersten
Stücke die schwerer faßbare Künstlerseele zu verdolmetschen gehabt
hatte, spielte den Gilbert mit der Laune des echten Bohémien. Ueber
wirkliche Literatur ist kaum noch so viel gelacht worden, wie heute
über ihr Jerrbild, in dem allerdings eine Menge von Feinheit und
—ser.
Wahrheit liegt.