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16.1. Lebendige Stunden Zuklus
berufenen angewandt haben. Sie haben gemeint, als Künstler] Am Freitag findet im Neuen Theater das einmalige Gastspiel] Wirkung der Passionsspiele in Oberau
müßten sie sich vor dem Publitum sozusagen nackt ausziehen, der Internationalen Tournee (Direktion: Gustav Lindemann) statt,
auch die Wirkung der zahllosen G
und haben ganz einfach in der unkünstlerischsten Weise Poesie
bei dem Gabriele d'Annunzios Drama: Die tote Stadt aufgeführt
Niemals sei das Publikum durch diese
berübt. Da hat sie in einem Roman ihre Liebschaft mit dem
wird. — Im Alten Theater geht am Freitag die beliebte Operette:
Rechtsanwalt Rosenstock ging noc
Dichterling geschildert und dabei ohne weiteres die Liebesbriefe,
Die Landstreicher in Scene.
Punkte ein, die das Polizeipräsidium
die sie an ihn geschrieben, und die, die er an sie geschrieben, wört¬
Biblische Stoffe auf dem Theater. Die Berliner Censur
bots angeführt hat, und wandte sich
lich abdrucken lassen — und einen ähnlichen Roman hat auch er
hat gestern wieder einmal eine der üblichen Niederlagen erlitten.
keit des dritten Grundes, die angeblich
geschrieben. Da werden also die Stümper verhöhnt, die die Lehre,
aus denen sie leider nie etwas zu lernen scheint. Paul Heyses
Person Christi mit der Maria von Ma
daß die Dichter Erlebtes zu gestalten und zu verarbeiten haben,
biblisches Drama Maria von Magdala, das anderwärts bereits
anwalt Rosenstock noch auf die Perso
ganz plump auffassen. Diese Satire ist Schnitzler sehr gut ge¬
gegeben worden ist, hat der Bezirksausschuß zu öffentlicher Auf¬
durch die Entscheidung des Polizeiprä
lungen; er enthüllt in übermütig ersonnener Handlung die ganze
führung im Berliner Lessingtheater freigegeben. Das Polizei¬
troffen sei. Herr Rosenstock teilte mit,
Schäbigkeit eingebildeter Dichterlinge, die mit plumpen Fingern
präsidium hat seiner Zeit das Aufführungsverbot damit begründet,
Verhandlung nicht persönlich erschiene
ins Leben greifen, ohne eine Ahnung vom künstlerischen Schaffen
daß das Heysesche Schauspiel geeignet sei, das religiöse Em¬
Erregung, in die ex durch das Verbo
zu haben.
pfinden der christlichen Bevölkerung zu verletzen. Im einzelnen
brauchen, die öffentlich nicht gesproche
So flott aber das Stück ist, so verwirrend muß es in dem
werde diese Verletzung des religiösen Empfindens durch die
Wenn der Vertreter der Klägerng
Zusammenhang mit den übrigen Stücken wirken. Das Satyr¬
wörtliche Verwendung von Stellen der heiligen Schrift verursacht,
des Polizeipräsidiums beleuchtete, so
spiel nach der Tragödie — das ist eine schöne Sache. Aber die
rklich
durch die dramatische Verwertung der Person
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thatsächlich wegen der Verwerfung
Tragödie muß dann wirklich vorausgegangen sein. Und die ist
und Leidensgeschichte Christi und endlich dadurch, daß
gemeinere Bedeutung. Der Erlaß des
hier nicht vorausgegangen. Das Thema von der Stellung des
0
die Kreuzigung Christi in Beziehung gebracht werde zu dem Ent¬
Jahre 1875 erklärte: „Für unzulässi
Dichters zur Wirklichkeit ist nicht so ausgeführt, daß es irgendwie
schluß eines angeblich buhlerischen Weibes (Maria von Magdala),
Standpunkte öffentliche Darstellungen
ergreifen könnte. Zu den Dichterlingen des letzten Stückes fehlt
sich einem Manne (Flavius) hinzugeben. Das Polizeipräsidium
des Alten und Neuen Testaments, nc
der Gegensatz. Nirgends wird der Dichter im Ringen mit dem
stützte sein Verbot der Aufführung der Maria von Magdala in
Lebens= und Leidensgeschichte, möge
Leben gezeigt, wir hören nur immer davon, daß sich die Dichter
Berlin auf einen Erlaß des Kultusministers vom 8. Oktober 1875,
lebende Bilder oder in scenisch sich be
leicht mit dem Erlebten abfinden, und das ist ja im Grunde nichts
dem zufolge grundsätzlich Theaterstücke mit biblischem Inhalt als
um deshalb erachtet werden, weil sol
weiter als oberflächlichste Betrachtung, die die leichtfertigste
nicht geeignet zur Aufführung anzusehen seien.
großen Teile der Bevölkerung Anstoß
Meinung von dichterischem Schaffen ins Publikum hinausträgt.
In der Verhandlung vor dem Bezirksausschuß unterwarf
Gefühle vieler verletzen würden ...“
Das Publikum ging gestern erst bei den beiden letzten Stücken
Rechtsanwalt Dr. Rosenstock nach dem Berliner Tageblatt die
aufrecht erhalten werden konnte, wurd
richtig mit, die wohl auch auf dem Spielplan bleiben werden.
Entscheidung des Polizeipräsidiums einer scharfen Kritik. Die
eines Einzelfalles“ zugestanden. Als
Hier wurden auch die lebendigsten Charakterfiguren entworfen.
Polizei habe nur für die äußere Ordnung und ihre Wahrung zu
und v. d. Recke den Erlaß in Erinner
Wieder stand Herr Mehnert als der Dichter Weihgast und der
sorgen; es sei aber nicht ihre Aufgabe, über die innere Ruhe der
ausdrücklich, daß Ausnahmen zul
troddelhafte Baron Clemens im letzten Stück obenan, ihm zur
Bevölkerung zu wachen. Zudem komme es bei dem Verbot der
ausdrücklichen Zustimmung der Mini
Seite Margarete Frey als das Litteraturweib Margarete und
Aufführung eines Schauspiels auch nicht auf das allgemeine
so verklausuliert, ist der Erlaß nichts
Herr Forsch als der ewig beobachtende Schauspieler im dritten
Empfinden der Bevölkerung an, sondern auf das Publikum des
gerade im Interesse ernsten dichterischen
Stück. Die Stimmung des zweiten Stücks kam gar nicht heraus,
speciellen Theaters, in dem das Stück gespielt werden solle. Ueber
muß. Wer einigermaßen in der mod
woran Regie und Schauspieler zu gleichen Teilen Schuld trugen.
diesen Punkt aber sei das Polizeipräsidium überhaupt in keine
Bescheid weiß, der weiß auch, daß de
gm.
Prüfung eingetreten. Ferner erhebe sich die Frage: Ist über=[und immer wieder zu dichterischer Aus
Theaternachrichten. Neues Theater. Donnerstag, zum erstenmale
haupt der vom Ministerium aufgestellte Grundsatz berechtigt, es stellt gewiß dem Dramatiker eine
So leben wir. Lustspiel in vier Akten von L.-Leipziger. Altes
Dramen biblischen Inhalts zu verbieten, weil sie angeblich ge¬
zu bewältigen des Schweißes der Edel
Theater. Donnerstag, zum erstenmal: Die Kreuzelschreiber. Bauern¬
eignet sind, religiöse Empfindungen zu verletzen? Diese Fragelich nach der Entscheidung in Sachen
komödie mit Gesang in drei Akten von L. Anzengruber.
könne man nicht bejahen. Man brauche zum Beispiel nur die Erlaß nicht wieder herangezogen wer