Faksimile

Text

14: Der Schleier der Beatrice
box 20/1
Da an den großen Dionysien des, ersten Jahres der
89. Olympiade der Komiker Aristophanes, der,„von
den Freisinnigen unter den Atheniensern alseein
niedriger und frecher Pamphletist; gehasst worden
ist, in seinen - Wolken- der Sokrates auf die Bühne
brachte und als einen Mann anklagte und verhöhnte,
der da lehre, wie Unrecht triumphiert durch Rede¬
kunst- und wie man seine Schulden loswerden könne.
ohne den Gläubigern einen Obolos zu zahlen: stand
der Philosoph von seinem Sitze im Theater auf und
stellte es den Zuschauern anheim, mit der Caricatur,
die auf der Bühne Namen und Maske des Sokrates
trug, das Original zu vergleichen ... Die Männer von
Athen sind wahrlich nicht wehleidig gewesen. Gleich
Sokrates haben auch Perikles und Kleon die Pfeile des
wüthenden Spottes und Zornes erduldet. Kleon hat
freilich schon seinem satirischen Gegner Aristophanes
einen Process angehängt. Aber erst acht Jahre nach
Kleons Tod hat eine entartende Demagogie der Bühnen¬
freiheit Schranken gesetzt. Da verfiel die Komödie.
Bei uns hat sie nie aufblühen können. Die
öffentlichen Plätze darf hierzulande die Satire nur an
der Leine und mit dem Maulkorb angethan betreten.
Der Staat .- so nennen sich bei uns die Behörden —,
die Armee un die Kirche haben ihr als sacrosanct
zu gelten. Und zu den aufgezwungenen Beschränkungen
hat die österreichische Komödie neuerer Z#it frei¬
willig noch weiteren sich unterzogen. Auch Taussig
und Wittgensteig sind sicher, von ihr nicht ange¬
griffen zu werden; auch die Presse; und nicht am
wenigsten die localen Machthaber und die localen
Parteiverhältnisse. Selbst Dramen, die vielleicht auf diese
Verhältnisse (gededtet werden könnten, sind unsere
Bühnen verschlossen. Herr Bukovics hat Max Dreyers
PProbérandidak- nicht etwa, weil's ein spottschlechtes
Stück ist (abgelehnt, isondern, wie er im „Neuen Wiener
Tagblatt erklären ließ, weil es ein Tendenzstück sei,
also — aus Vorsicht. Nur ein Gebiet hat die Fürsorge
der Obrigkeit den Bühnensatirikern noch freigelassen,
die nicht, swie die Herren Karlweis und Bahr, mit
Witzen aus denFliegen den Blättern“ und dem „Simpli¬
cissimus“ auszukommen verstehen: die Socialdemo¬
kratie darf noch verhöhnt werden. Aber da bäumt
sich das Rechtsgefühl unserer Socialdemokraten auf:
wenn schon nicht gleiches Recht, so kann doch
gleiches Unrecht für alle erkämpft werden. Die Censur,
die sorglich Herrn Lueger wie Herrn Noske vor den
Angriffen dramatischer Spôtter schützt, darf diesen
auch die Führer der Socialdemokratie nicht preisgeben.
Und wenn sie's thut, dann muss man wohl den Social¬
demokraten das Recht auf Selbsthilfe durch Theater¬
scandale zubilligen.
Wenn man selbst Polizei spielt, sollte man es
dem Gegner nicht verargen, dass er nach Polizei rust.
In Wien freilich lässt klügere Ueberlegung diesen
Ruf in der Kehle ersticken. Man weiß, dass gerade
durch Theaterscandale, und nur durch sie, Dramen
wie des Herrn Adamus -Familie Wawroche sich er¬
halten köngen. Aber in Galizien sicht man in Theater¬
scandalen noch eine Gefahr. Kein Wunder also, wenn
die Krakauer Polizei einschritt, als Herr Daszynski
Muc.. Komnte. Es ist umwahr, dass
der in der „Neuen Freie Presse“ vom 6. October er¬
schienene 1½ Spalten lange Artikel vom Herrn
Präsidenten Julius Pastrée nur gezeichnet und von
mir verfasst wurde. Wahr ist, dass ich von diesem
Artikel nichts wusste, bis derselbe am 6. October in
der „Neuen Freien Presse“ zum Abdruck kam. Es sinde
daher alle mich betreffenden Behauptungen des be