Faksimile

Text

14. Der Schleien der Reatrice
rohen, chauvinistischen Instinkten der Masse persönliche
Vorteile zu ziehen sucht. Der Herr Volksagitator und
Ministeriums=Aspirant leidet jedoch politischen Schiff¬
bruch und kehrt sterbend nach seinem wirtschaftlich
ruinierten Landsitz, der einst die Morgengabe seiner ver¬
nachlässigten Gattin bildete, zurück, der er nun die Sorge
für ihre sechs Kinder hinterläßt. Bojers Buch, bemerkt
ein hiesiges Blatt in seiner Besprechung, gehört zu denen,
die unser Blut zum Sieden bringen können, der Roman
enthält einen Mahnruf an das heranwachsende Geschlecht,
wie ihn selbst ein Tolstoi nicht eindringlicher predigen
könnte.
Aus der Zeitschriften=Litteratur möchte ich namentlich
auf ein paar Abhandlungen im „Kringsjaa“ hinweisen.
Heft 9 bietet eine Würdigung des Engländers James
Martineau, von dem es heißt, daß England in ihm den
größten Religionsphilosophen verloren habe, der jemals
seine Gedanken in die Sprache Shaksperes kleidete. Das
gleiche Heft enthält eine fesselnde Studie über Theater¬
wesen und Theaterkunst in Japan. Die Geschichte des
japanischen Theaters lasse sich bis zum zwölften Jahr¬
hundert verfolgen. Vor jenem Zeitpunkte gab es zwar
auch Schauspiele, die aber ausnahmslos das rein reli¬
giöse Gebiet pflegten. Mit dem Verfall der buddhistischen
Lehre entwickelte sich auch die szenische Kunst zu höherer
— d. h.
Blüte. Anfangs bevorzugte man sog. Sorrugakas
aus Dialogen und Chorgesängen zusammengesetzte Stücke
ohne eigentliche Handlung, und daneben das sogenannte
Dengaku, in dem Tänze und Gesang vorherrschten.
Neuerdings hat sich die szenische Leistungsfähigkeit
der japanischen Dichter und Schauspieler sehr ent¬
wickelt. Die Bühnenstücke lassen sich in zwei Haupt¬
gattungen teilen: Gidajmono und Sewamono. Ersteres
ist ein historisches Drama, dessen Held in der Regel sich
als Ritter ohne Furcht und Tadel präsentiert und der
Ehre nebst dem Vaterlande alles opfert. Auch „Hel¬
dinnen“ kommen in diesen Stücken vor, mutige und
unternehmungsfreudige Frauen, die ihre Klugheit ein¬
setzen, um die heranwachsende Jugend vor listigen
Schurkenanschlägen zu bewahren. Das „Sewamono“
bezeichnet das Genre der Liebes= und Intriquenstücke.
Hier kommt der Realismus zu seinem Rechte.=Im In¬
triquenstücke weiß der japanische Dichter die verschlungen¬
sten Kombinationen auszuklügeln, die regelmäßig im
fünften Akte mit der Proklamation des „moralischen
Sieges“ den erforderlichen harmonischen Abschluß finden.
In Heft 10 verbreitet sich H. C. Hansen über
Henrik Ibsens Stellung zum Realismus. Der Verfasser
erinnert daran, daß der Altmeister vor einiger Zeit in¬
bezug auf die szenische Auffassung der Hedda Gabler
einem berliner Theaterdirektor erklärte, er habe in ihr
gar keine „Canaille“ zeichnen wollen, sondern nur im
Laufe des Stückes betont, „auf welche Excentrizitäten
eine lebhaft veranlagte Frau, die sich in gesegneten Um¬
ständen befindet, in einem vorgerückten Stadium ihres
Zustandes verfallen kann.“ Hansen protestiert gegen
diese Form dichterischer Selbsterniedrigung, deren Ibsen
sich durch diese ironische (?) Zuschrift schuldig gemacht
habe. Acceptiere man Ibsens Behauptung, so gerate
das ganze Drama aus den Fugen. Im gleichen Sinne
könnte auch ein Shakspere von seinem „Hamlet“ sagen,
daß er in jenem Drama habe diejenigen Excentrizitäten
schildern wollen, auf die ein von Geistesgestörtheit be¬
fallener Jüngling beim Herannahen der völligen Um¬
nachtung verfallen könne.
Viggo Moe.
Christiania
2
senenenenanenend
— Echo der Bühnen. — *
orseneenAndnaangs
Breslau. Arthur Schnitzlers neuestes Drama,
„Der Schleier der Beatrice“ hat schon vor seiner
Bühnentaufe die Aufmerksamkeit litterarischer Kreise in
box 20/2
besonderem Maße beansprucht. Man erinnert sich der
in die Oeffentlichkeit getragenen Angelegenheit Schnitzter¬
Schlenther. Der Burgtheater=Leiter hatte das Werk,
wenn auch nicht offiziell, so doch brieflich acceptiert und
sogar Besetzungsvorschläge gemacht, um dann später,
durch „höhere“ Einflüsse bestimmt, von der Aufführung
zurückzutreten. Merkwürdigerweise fand sich keine große
Bühne, die den Mut gehabt hätte, das Burgtheater zu
beschämen. Nur Herr Dr. Löwe, der Direktor der „Ver¬
einigten Theater“ in Breslau, stellte sein Lobetheater
zur Verfügung. Allerdings wäre es für beide Teile
besser gewesen, Direktor Löwe hätte weniger Mut oder
aber reichere künstlerische Mittel und tüchtigere Schau¬
spieler gehabt. Der „Schleier der Beatrice“ ist ein sehr
rostbares, sehr heikles Gewebe, und wenn das sonst nicht
allzu kritische breslauer Publikum trotz der Anwesenheit
des hier sehr beliebten wiener Dichters die letzten beiden
Aufzüge der fünfaktigen Tragödie mit Zischen anblies,
so war der ungeheure Abstand zwischen den Wünschen
Schnitzlers und ihrer hiesigen Verwirklichung wohl der
Hauptgrund für das Umschlagen der nach den ersten
Akten ausgezeichneten Stimmung.
„Der Schleier der Beatrice“ ist ein Renaissance¬
Drama wuchtigsten Stiles, in Vers und Prosa ge¬
chrieben, reich an „Handlung“ blutigen Katastrophen,
bizarren Charakteren. Die bizarrste unter den Gestalten
s Werkes ist die 16jährige Heldin Beatrice, ein naiv
kindliches und raffiniert sinnliches Fräulein. Hysterie
und kühle Berechnung, Frechheit und Feigheit mischen
ich in ihrem Wesen. Dem edelsten Dichter Bolognas,
Fllippo Loschi, schenkt sie ihr Herz, aber bei süßester
Unterhaltung erzählt sie dem sensiblen Poeten, daß der
schmucke Herzog von Bologna, Herr Bentivoglio, sie
zärtlich umarmt hat — wenn auch nur im Traume,
was für Loschi die Sache nur verschlimmert. Er stößt
sie also von sich, und sie will nun einen ihrer bürger¬
lichen Anbeter, den braven Vittorino, erhören. Da tritt
ihr der Herzog ihrer Träume leibhaftig entgegen, den
ihre junge Schönheit berauscht. Unter seinen Blicken
steht Beatrice zitternd; als er sie aber aufs Schloß zur
Liebesnacht fordert, läßt sie das Zittern sein und ant¬
.
wortet mit sanfter Deutlichkeit: Kommen möchtt ich schon,
aber nicht als Dirne, sondern als Herzogin. Der herzog¬
liche Liebhaber hat auch gegen die Legitimierung seiner
Zärtlichkeiten nichts einzuwenden, und so vertauscht
Beatrice ihren Vittorino mit einer weit besseren Partie.
Darob ersticht sich dieser arme Junge. Kaum aber ist
Beatrice Frau Herzogin, als sie von der Kirche aus zu
ihrem früheren Anbeter Loschi eilt. Der aber stößt die
Ungetreue zum zweiten Male von sich und nimmt vor
ihren Augen Gift. Schreiend entläuft Beatrice und
läßt dabei ihren Schleier, das kostbare Geschenk des
Herzogs, bei dem Toten zurück. Als der Fürst hoch¬
notpeinlich die Gattin nach dem Verbleib des Gewebes
befragt, führt sie ihn in finsterer Nacht zu Loschi zurück.
Sie finden den Schleier, aber Bentivoglio, mißtrauisch
geworden, entdeckt beim Scheine der Frühdämmerung
den Leichnam, zugleich Beatricens Liebesvergangenheit.
Der edle Mäcen sprichk dem Entschlafenen schöne Worte
des Ruhmes nach. Derweil erdolcht Beatricens Bruder,
ein Römer an Tugend, die leichtsinnige Schwester.
Diese krasse Geschichte, würdig der blutigen Epoche,
in der sie spielt, ist in eine Haupt= und Staats=Aktion
gebettet, den Kampf des Herzogs von Bologna mit dem
raubgierigen Papstgeschlechte der Borgia. Hier liegt der
Hauptfehler der an genialen Zügen und poetischen
Schönheiten reichen Dichtung. Die politischen Begeben¬
heiten treten in Schnitzlers Darstellung weit, allzuweit
von den glutvöll versinnlichten A#teuern Beatricens
ssance=Menschen
zurück. Schnitzler wollte für seine#
den großen, historischen Hintergrund#en, hat aber
nur die Klarheit seiner Komposition durch eine Ueberzahl
von Personen und Motiven beeinträchtigt. Allerdings
hat der Dichter der hiesigen Aufführung Strich=Kon¬
zessionen machen müssen, die vielleicht diese scheinbare
Benachteiligung der politischen Vorgänge herbeigeführt