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14. Der Schleier der Bestrice
uns. Der Grund hiervon liegt einfach darin, dass die Kinder immer
beschäftigt sind, dass sie nicht müßig gehen können.
Ich habe noch nie ein normales, gesundes Kind sich selbst
überlassen gesehen, ohne dass es rastlos thätig gewesen wäre. Wie
ein perpetuum mobile ist es geschäftig von früh bis spät. Als ob
sie nicht Blut, sondern Queckülber oder lebendige Ameisen in den
Adern hätten, hüpfen, springen, reißen, bauen, lachen, fragen, essen
und trinken unsere kleinen Pädagogen, bis der Schlaf ihnen die
Augen schließt. Diese fortwährende Arbeit und die Art und Weise,
wie sie dieselbe betreiben, ist es. die ihnen das Leben süß macht
und erhält. Oft muss man die Emsigkeit, Gründlichkeit, Hingebung
und Beharrlichkeit bewundern, mit welcher zarte Kinderhändchen
ihre Hantierungen verrichten. Dieser bienenartige Fleiß, der sie
alles Mögliche und Unmögliche sammeln läfst, dieser innere Wissens¬
drang, mit dem sie die Blume zerpflücken, ein Bild zerschneiden,
ihre Trommel zerschlagen und den Spiegel zertrümmern, nur um
zu erfahren, „was darin ist“ und „wie es inwendig aussieht,“ di
mütterliche Sorgfalt für die Puppe die Ausdauer bei der Auf¬
stellung des Baukastens, diese zahlreichen, mit der wichtigsten Miene
der Welt ausgeführten Geschäfte lassen keinen Sinn und, was noch
mehr ist, keine Zeit zu Launen und Sorgen. Das Kind geht so
vollständig in dieser seiner Thätigkeit auf, dass es Vergangenheit
und Zukunft darüber vergisst, dass es nur den Augenblick ausnützt,
diesen dafür aber voll und ganz genießt. Wer aber unbekümmert
um Vergangenheit und Zukunft die Gegenwart mit vollen Zügen
genießen kann, der ist glücklich. Das Glück sorgloser Heiterkeit will
durch fortwährende Thätigkeit und durch Freude an der Thätigkeit
bei den Kleinen wie bei den Großen erworben werden. Wo unsere
Neigung der Berufsthätigkeit und die Berufsthätigkeit der Neigung
entspricht, wird sich auch überall die höchste Freude finden. Müßig¬
gang ist nicht nur der Anfang aller Laster, sondern auch aller Sorge
und Schwermuth. Wie man sie aus dem Herzen und aus dem
Hause bannt, können wir nirgends besser als an dem Beispiele
unserer Kinder lernen.
Es sei uns noch gestattet, auf eine andere für unsere eigene
Erziehung höchst bedeutsame Lebensregel aufmerksam zu machen,
welche aus dem Beispiele unserer Kinder zu uns spricht. Sie
schütteln, selbst wo ein gewaltsamer Eingriff in ihre naturwüchsige
Heiterkeit dieselbe stört, ihr Weh leichter ab, als die Erwachsenen
es vermögen. Sie kennen nichts Böses, vor allem aber tragen sie
keinen Hass nach. Der Erzieher, welcher ein Kind zu strafen ge¬
nöthigt ist, wird von der Strafe mehr und länger verbittert, als
dieses selbst. Es trägt dem gerecht und auf vernünftige Weise
strafenden Erzieher keinen Groll nach, es kann ohne Selbstüber¬
windung wenige Minuten nachher die strafende Hand mit derselben
Innigkeit küssen und hat absolut kein Verständnis dafür, wie man
Hafs im Herzen hegen und pflegen kann. Wo dies im vorgerückten
Kindesalter nicht mehr der Fall ist, hat das Beispiel der Großen
seinen unseligen Einfluss bereits geltend gemacht. Es gehört nur
wenig Unvernunft dazu, dem Kinde die himmlische Gabe des Ver¬
gessens aller Widerwärtigkeiten zu rauben und ihm das Gift des
Grolls und der Tücke einzuträufeln. Es bedarf für das Kind nur
weniger Stunden, oft nur weniger Minuten, um alles Trübe zu
vergessen. Mit jedem neuen Tage beginnt für das Kind ein neues
Leben, welches durch keine Spur von dem Weh des gestrigen Tages
verunstaltet wird.
Nirgends auf Erden erscheint das Ebenbild Gottes getrübter,
als in der Brust, in welcher die schwarzen Nachtgedanken des
Grolles und des Hasses nisten, und nirgends tritt es herrlicher und
herzgewinnender auf, als in dem Leben des Kindes, dessen Fähig¬
keit, zu vergeben und zu vergessen. nur von Gottes himmlischer
Liebe und Gnade übertroffen wird. Wie sichern sich nun die Kinder
den beglückenden Besitz dieses göttlichen Angebindes? Durch ihre
unermüdliche Thätigkeit, von der wir schon gesprochen haben.
So können wir durch den Umgang mit den Kindern mehr
lernen, frommer, edler und weiser werden, als oft durch den Um¬
gang mit den weisesten Leuten unserer Bekanntschaft.
J. B. Manz.
z

Neueste Dichtungen von Arthur Schnitzler.
Dem Literarhistoriker liegt es nahe, die einzelnen Schöpfungen
2 des Tages auf ihren Zusammenhang mit der allgemeinen dich¬
terischen Entwickelung hin zu prüfen, beim neuesten Werke eines
Schriftstellers zu fragen, welche Bedeutung ihm beim Vergleiche mit
dessen bisherigen Leistungen zukommt. Und von den drei jüngsten
Dichtungen Schnitzlers geben wenigstens zwei zu solcher Erwägung
ganz besonderen Anlass Die Jahre 1900/1 wird man künstig ein¬
mal bei einem Ueberblicke von Arthur Schnitzlers dichterischem Ent¬
wickelungsgange wohl zu beachten haben. Schnitzler hat in diesen
zwei Jahren seinen ersten Versuch im Roman veröffentlicht und
hat den bisherigen Umkreis seines dramatischen Schaffens mit einer
Tragödie hohen Stils überschritten. Ein dramatisches Werk wie
box 20/3
„Der Schleier der Beatrice"*) konnte nur gelingen auf
Grundlage so langjähriger und scharfer psychologischer Beobachtungen,
wie sie die beiden fast gleichzeitig damit erschienenen Erzählungen,
der Roman „Frau Bertha Garlan“**) und die Novelle
„Lieutenant Gustl"***), erkennen lassen. Soweit das Renaissance¬
drama von den aus kleinlichen Verhältnissen der nächsten Umgebung
und des Tages berichtenden Erzählungen auch abliegt, so ist die
psychologische Meisterschaft doch dem Schauspiel und den beiden Er¬
zählungen gemeinsam.
„Lieutenant Gustl“ ist durch die unerfreulichen Folgen,
welche die Veröffentlichung des Werkes für den Verfasser nach sich
zog, in allen Tageszeitungen genannt worden. Auch sehr militär¬
fromm gesinnte Leser werden nicht recht verstehen, wie die Novelle
im österreichischen Offieierscorps so schweres Aergernis erregen
konnte. Zum Idealmenschen fehlt dem leichtsinnigen Lieutenant Gustl
freilich recht viel, aber es ist doch sehr fraglich, ob auch bei strenger
Auffassung des militärischen Ehrbegriffes Gustl sich des Officiers¬
standes unwürdig macht, wenn- er durch den zufälligen Tod seines
Beleidigers die Sache für erledigt ansieht. Sein fester Todesentschluss
hat doch zur Genüge bewiesen, dass es ihm mit der Reinerhaltung
des Ehrbegriffes, wie er im Kameradenkreise einmal festgestellt ist,
bitterer Ernst ist. Im alten spanischen Drama würde zweifellos die
Dichter und Publicum beherrschende Auffassung, trotz dieses glück¬
lichen Todesfalles des handfesten Bäckermeisters, den freiwilligen
Sühnetod des Caballero gefordert haben. Unter den modernen Lesern
werden wenige den lebenslustigen, durch manche Züge unsere Theil¬
nahme weckenden Lieutenant zum Tode verdammen, und jeden¬
falls war der Gustl, dessen Bekanntschaft wir gemacht haben, gar
nicht einer solch tieferen Auffassung des Ehrbegriffes fähig, dass er
sich gesagt hätte: der Schimpf haftet an mir, ob jemand darum
weiß oder nicht, und darnach heroisch gehandelt hätte. Es wird in
Oesterreich wie in anderen Ländern genug Officiere geben, die so
denken und handeln würden, aber ein großer Theil, vor allem der
noch jungen, noch nicht durch den Ernst des Lebens erzogenen
Officiere wird wie Lieutenant Gustl handeln. Und die Vorführung
eines solchen, eben noch unreifen jungen Mannes wird nach dem
Empfinden der meisten civilistischen wie militärischen Leser keinen
Angriff auf Staatsanschauungen enthalten, wie sie tedenziös ver¬
letzend etwa in Sudermanns „Ehre“ erhoben worden sind. Nachdem
einmal die Novelle vor ein anderes Forum, als das der ästhetischen
Beurtheilung gebracht worden ist, war eine Stellungnahme zu jener
Frage nicht zu vermeiden. Als Dichtung fordert „Lientenant Gustl“
nach der technischen Seite zu einem Vergleiche mit Gerhart Haupt¬
manns novellistischer Studie „Der Apostel“ heraus. Hier wie dort
haben wir die Entwickelung eines Seelenzustandes als den eigent¬
lichen Inhalt. Bei Schnitzler folgt aber der höchsten Anspannung
die heitere Auflösung, der Held wird aus seinem toddrohenden Vor¬
stellungskreise durch den Kobold Zufall gerettet, während Haupt¬
manns Held in der Flut der auf ihn andrängenden Wahnvor¬
stellungen rettungslos versinkt. Als novellistische, psychologische
Studien mehr, denn wie als wirkliche Novellen dürften beide
Werke zu bezeichnen sein. Während aber Hauptmann als Autor
die Umgebung schildert und uns als einer, der gleichsam in das
Innere des Apostels hineinschaut, von dessen wachsender Geistes¬
wirrung berichtet, hat Schnitzler mit technischer Virtuosität sich
jeder Einmischung des Erzählers enthalten. Vom ersten bis zum
letzten Worte, von der Langweile über die ernste Concertmusik bis
zum innern Jubel über die Mittheilung des schläfrigen Kellners,
haben wir es nur mit dem Helden selbst als Sprechenden oder
vielmehr Denkenden zu thun, denn den ganzen äußeren und
inneren Vorgang erfahren wir ja nur als Theilnehmer von Gustls
Gedankenmonolog. Selbst die Beleidigung, welche der thöricht von
Gustl gereizte Bäckermeister dem entwaffneten Officier an den
Kopf schleudert, erfuhren wir nur aus Gustls Gedanken, die für den
Leser eben die Monologform annehmen. Freilich hätte Schnitzler
dabei besser gethan, Gustls Gedankengänge etwas abzukürzen Im
Verhältnis zu dem knappen Inhalt und zu der gewählten Form
ist die Novelle zu lang gerathen trotz des urwüchsig frischen Tones,
der in jedem einzelnen Zuge festgehaltenen Lebenswahrheit.
Die unbedingte Lebenswahrheit in jeder einzelnen Person
wie in dem greifbaren Milien des ganzen kleinen Städtchens fesselt
uns auch in dem Roman „Frau Bertha Garlan“ Schnitzler
hat sich auch im Roman auf eine einfache Handlung beschränkt.
Ohne Liebe hat Frau Bertha nach Aufgabe ihrer Jugendhoffnungen
auf eine Künstlerlaufbahn ihren braven Philister geheiratet, aber
in der jungen Witwe wächst immer unabweisbarer die Sehnsucht
heran, auch einmal etwas zu erleben. Das Bild ihres einstigen
Kameraden, der inzwischen ein berühmter Geiger geworden ist. wird
wieder in ihr lebendig, sie sucht ihr Ideal in Wien auf. Für den
Verwöhnten ist die Liebesnacht, in der Bertha den Inhalt ihres
Lebens finden möchte, nur eines von seinen vielen galanten Aben¬
) Schauspiel in fünf Aeten. Zweite Auflage. Berlin, S. Fischees Verlag, 1901.
215 S. 80.
** Berlin, S. Fischers Verlag, 1901. 246 S. 80.
**) Illustriert von M. Coschell. Berlin S. Fischers Verlag, 1901. 80 S. 80.