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Der Schleier der Beatrice
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Notizen und Besprechungen. ###1#
Je
vermag, bald ist es eine Zeichnung, bald eine Novelle oder ein Gedicht.
Was soll z. B. die Erzählung Mine=Haha von Frank Wedekind, die im
Aprilheft begonnen, im Maiheft fortgesetzt und im mir noch nicht vorliegenden
Juniheft beendet werden wird? Auf die Gefahr hin, mich zu blamiren
und eine sehr tiefe und originale künstlerische Offenbarung mißzuverstehen,
möchte ich meinen: sie soll im tiefsten Grunde nichts. Ganz phantastische
und barocke Gestalten an unfaßbaren Orten in unbegreiflichen Situationen
werden vorgeführt. Immer glaubt man, jetzt kommt die Aufklärung.
Sie kommt aber nicht. Das Ganze ist nicht ohne Stimmung und
jede Situation ist voll Bildlichkeit, so daß man immer wähnt, es bedeutet
etwas und birgt einen Sinn. Aber es läßt sich doch nichts fassen und
verstehen. Und das gerade, vermuthe ich, ist der Sinn des Ganzen, der
Sinn dieses Spiels, daß man glaubt, einen Sinn zu erfassen, um ihn
sogleich wieder zu verlieren. Mit ganz kleinen Kindern spielt man oft so:
man bringt einen reizvollen Gegenstand, eine kleine Puppe oder einen
Kuchen, ihnen so nahe, daß sie mit den Händchen danach greifen, um dann
den Gegenstand wieder zurückzuziehen. An diesem Hin und Her von
Greifen und Verlieren finden die Kinderchen großes Vergnügen. Dieses
Kinderspiel ins Literarische übertragen zu haben, scheint mir das Kunststück
des Herrn Frank Wedekind zu sein. An sonstigen Beiträgen enthalten die
Hefte unter Anderem einen Poggfred=Cantus von Lilieneron und die Fort¬
setzung des Richard Dehmel'schen „Romans in Romanzen": Zwei
Menschen, von dem vielleicht nach seiner Beendigung zu reden sein wird.
Max Lorenz.
Von Arthur Schnitzler liegen drei, bei S. Fischer, Berlin 1901, er¬
schienene Bücher vor. Das fünfaktige Schauspiel „Der Schleier
der Beatrice", der Roman „Frau Bertha Garlan“ und die
Rovelle „Leutnant Gustl.“
das Drama bedeutet eine Verirrung des Dichters. Ich glaube,
Schnitzler wollte Sha#e###eare werden, hörte bei diesem Versuche aber nur
auf, Schnitzler zu sein. Dieser Erste von der Wiener „Moderne“ ist sonst
stets klar und nicht ganz ohne tiefen innerlichen Ernst. Diese Klarheit
und Durchsichtigkeit fehlt aber dem Schleier der Beatrice." Sie fehlt
nicht, wenn man die einzelnen Stücke des Dramas und die äußeren
Geschehnisse betrachtet. Von einer verhüllenden, nebelhaften Mystik ist hier
gar keine Rede. Aber die Idee des Ganzen, der dem Ganzen zu Grunde
liegende und es zusammenhaltende Sinne tritt nicht mit greifbarer Deutlich¬
keit hervor. Ich muß bekennen, keinen einzigen der Charaktere so recht
gründlich verstehen zu können. Gewiß könnte ich mir mit Leichtigkeit
allerlei Beziehungen und Probleme mit Spürsinn konstruiren. Aber ich
müßte mich dabei selber betrügen mit einem Kunstwerk, das in Wahrheit
so gut wie keinen Eindruck auf mich gemacht hat.