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14. Der Schleier der Beatrice
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Notizen und Besprechungen.
Das Schauspiel geht zu Bologna Anfangs des sechzehnten Jahr¬
hunderts vor sich. Es ist ein Renaissancedrama, wie auch Halbe's
„Eroberer“. Die Zeit ist groß und wüst, die Menschen sins stark und
wild. Bologna ist rings von übermächtigen Feinden eingeschlossen.
„Morgen“ muß Adel und Bürgerschaft in Schlacht und Tod rücken.
„Heute“ aber ist noch ein Tag glühendster Lebens= und Liebesleidenschaft
und bacchantischer Feste. Der gegensätzliche Zusammenhang zwischen Liebe
und Tod scheint mir die Grundidee und die Grundstimmung für dieses
Drama abzugeben. Das ist gewiß ein bedeutsamstes dramatisches und
tragisches Thema, das hier angeschlagen, aber nicht zum Erklingen ge¬
bracht wird. Die Liebe konzentrirt sich auf Beatrice, die wunderschöne
Tochter eines Händlers Nardi. Diese Beatrice wird geliebt von Filippo
Loschi, dem tapferen Edelmann und gefeierten Dichter. Um dieser Beatrice
willen verläßt er seine adelige Vraut Teresina und ist bereit, auch Ehre
und Heimath zu verlassen. Beatrice aber hat im Traum sich von dem
schönen und starken Herzog von Bologna, Bentivoglio, geküßt gewähnt. Des¬
wegen verstößt sie Filippo. Sie geht und ist bereit, auf Rath des Bruders
einen jungen Standesgenossen Vittorino zu heirathen. Auf dem Wege zur
Kirche — denn die Liebe hat Eile, da der Tod für morgen droht — be¬
gegnet der Herzog ihr, liebt sie und gesteht seine Liebe. Sie sagt nicht
nein, verlangt aber zur Herzogin gemacht zu werden. Der Herzog läßt
sich sofort trauen und giebt ein bacchantisches Fest im Garten seines
Palastes unter freiem Himmel; alles was jung und schön ist, soll un¬
beschadet Zutritt haben:
Nehmt meinen Garten
Als dustend Lager Eurer Freuden hin!...
. Ich aber, Euer Fürst,
Jeglichem Bund, der heute Nacht sich schließt,
Geb' ich die Weihe. Heiligt andre Ehen
Unlöslichkeit und Dauer geb’ ich diesen,
Was Euch Beweglichen, Veränderungsfrohen,
Euch Menschen besser dient, das schnellste Ende —
Sie alle löst das erste Grau'n der Früh'.
Doch was aus der Entzückung dieser Stunde
Aufsprießen mag zu seiner Zeit, das trage
So wunderbaren Ursprungs Zeichen mit,
So lang es lebt. — Adlig geboren nenn' ich
Die Sprossen dieser Nacht, da Euer Fürst
Mit Beatrice Nardi Hochzeit hält.
Heimlich aus dem Festestaumel entfernt sich Beatrice und begiebt sich
zu Filippo, den sie eigentlich liebt. Der stellt ihr die Bedingung, nach
dem Glück genossener Liebe mit ihm zu sterben. Das vermag die Lebens¬
frohe nicht. Da tödtet Filippo sich allein. Von Grauen gepackt, begiebt
sich Beatrice zum Fest des Herzogs zurück, wo sie inzwischen vermißt
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Notizen und Besprechungen.
worden ist. Sie versucht, durch Lüge zu verhehlen, wo sie gewesen ist.
Schließlich aber wird sie doch gezwungen, den Herzog zu des todten
Filippo Hause zu führen. Der Herzog erkennt, was geschehen ist und
warum es so geschah. Er versteht und verzeiht:
Warst Du nicht, Beatrice, nur ein Kind,
Das mit der Krone spielte, weil sie glänzte, —
Mit eines Dichters Seel', weil sie voll Räthsel, —
Mit eines Jünglings Herzen, weil's Dir just
Geschenkt war? Aber wir sind allzu streng
Und leiden's nicht, und jeder von uns wollte
Nicht nur das einz'ge Spielzeng sein — nein, mehr!
Die ganze Welt. So nannten wir Dein Thun
Betrug und Frevel — und Du warst ein Kind!
In diesen Versen dürfte wohl der Schlüssel der ganzen verschlungenen
Geschehnisse zu suchen sein. Ich verzichte darauf, dieser Verschlungenheit
weiter nachzugehen. Die Haupthandlung wird von allerlei Nebenhandlungen
begleitet und gekreuzt. Das Grundmotiv, der Gegensatz zwischen Tod und
Leben, wird mehrfach ausgenommen und variirt. Die Personenfülle ist
erschreckend groß: mehr als fünfzig Nummern weist das Verzeichniß auf.
Leider bedeutet diese Personenfülle kein Gestaltenfülle, obwohl aller Wahr¬
scheinlichkeit nach Schnitzler vor Allem in die Figuren der beiden Gegen¬
spieler, des Herzogs und des Dichters, etwas Besonderes hineingelegt zu
haben wähnen dürfte. — Ich wiederhole nochmals: mit willkürlicher
Phantasie ließe sich wohl in das Drama viel hineinlegen, und ich traue
mir abstrakt konstruktive Begabung genug zu, um auch in diesem Falle
alles Verschlungene und scheinbar Verworrene als in schönster Ordnung
und von innerster Einheit darzustellen. Aber es lohnt nicht. Ich be¬
zweifle auch gar nicht, daß der Dichter selber in Allem Sinn, Plan und
Absicht sieht. Und ich glaube sogar zu wissen, welche Absicht ihn hier ge¬
leitet hat. Die Sehnsucht, aus den Niederungen des Naturalismus emporzu¬
kommen zu einer großzügigen Höhenkunst, haben wir Alle. Wir wollen
Kraft und Leidenschaft, reine, elementare Leidenschaft. Da kann nur
Shakespeare Vorbild sein. Auf Shakespeare's Spuren ist nun auch
Schnitzler gegangen. Mit vollem Bewußtsein hat er eine Fülle neben
einander laufender Handlungen erfunden. Mit vollem Bewußtsein hat er
mehr als fünfzig Personen aufgeboten. Mit vollem Bewußtsein hat er
auch Personen nach Art Shakespeare's sich geberden und sprechen lassen.
Man nehme z. B. die Szenen zwischen Antonio und Tito einerseits und
den Courtisanen Isabella und Lucrezia andererseits, und man höre, wie
Tito redet: „Und diese hier sind junge Mädchen aus Florenz. Sie sind
nach Bologna gekommen, um zehn oder zwölf lustige Tage mit uns zu
verbringen. Für die Lustigkeit haben wir bestens gesorgt, nur die Zahl
der Tage steht nicht bei uns. Jeden ihrer Wünsche haben wir ihnen