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14. Der Schleier der Beatrice
Die Zukunft.
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und lernen ahnen, warum gerade diese Zeit die reichste Kunsternte tragen
mußte. Zerstampfte Völker, verseuchte Höfe, Ungewißheit des nächsten Tages
und ungeheure Genußgier; und unter der Bewußtseinsschwelle überall ein
Pochen, das Sonnenuntergänge und Götterdämmerungen ankündet. In
Mussets Lorenzaccio sagt der Maler: Je plains les peuples malheu¬
reux, mais je crois en effet qu'ils fontlesgrands artistes; les champs
de bataille font pousser lesmoissons, lesterres corrompues engen¬
drent le blé céleste. So direkt redet man heute im Drama nicht mehr;
moderne Dichtergeschöpfe wollen behorcht sein. Herr Schnitzler zeigt Menschen,
über die der Christenglaube nur noch geringe oder gar keine Macht hat,
Menschen ohne Sozialgefühl, ohne fest wurzelnde Liebe zu Vaterland und Fürst,
schwankende Gestalten, die persönliches Glück suchen und sich herrischin das
Gesetz einer selbst bestimmten Individualsittlichkeit betten möchten. Und diese
Menschen kennen einander nicht, so dicht sie beisammen wohnen, wissennicht,
daß jeder Mensch, auch der unscheinbarste, eine Welt ist, deren Gemarkung
der Nachbar mit Ehrfurcht zu nahen hat. Das ist ein großer Gegenstand,
größer als alles Getriebe der Borgia und Sforza. Was wird unter Solchen
aus der Frau, die alter Bande ledig ist und dem leidvollen Glück entgeht,
als Gefäß der Gattung zu dienen? Sie blinzelt; sie taumelt; sie fällt, —
und über sie hinweg raft die Lebenssucht in neue Abenteuer, zum Fest neuer
Paarung. Denn alle erworbenen Rechte sind streitig geworden, auch das
wichtigste, das den Reichen der Geschlechter die Grenzen weist. Denn Jeder
denkt nur an die Beute der nächsten Stunde und Keiner achtet des Weibes,
das neben ihm, unter ihm stürzt. Warum wagte sie sich ins Gedräng?
Warum zog sie den Schleier nicht fest um Haupt und Glieder, den Schleier,
den Mannesherrschsucht und Manneseitelkeitihr gewebt hatten, trug ihnwie
einen Panzer, der alle besondere Wesensform wegschnürt, und blieb im Frauen¬
gemach, bis sie der Gebieter heranwinkte?... Solche Gährung der Geister dauert
nicht lange. Reiche sinken und Städte fallen, aber die Welt geht nicht unter und
der hitzigste Sinn muß wieder über den Mittag hinaus denken lernen. Sozialer.
Zwang meldet sich, die alte Ordnung stellt sich, wie von selbst, wieder her und
mählich erst merkt man, daß hier ein Grenzstein verrückt, dort alte von neuer
Konvention abgelöst ist. Jetzt, plötzlich, will Adam nicht Schöpfer mehr sein,
nicht in eines lieblich lügenden Kindes Schoß sich den Erben zeugen; der in
Mühsal Zerriebene sehnt sich nach Persönlichkeit. Des Hauses Thür thut sich
auf und schleierlos schreitet die Frau in den wiedergeborenen Tag. M. H.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: M. Harden in Berlin. — Verlag der Zukunft in Berlin.
Druck von Albert Damcke in Berlin=Schöneberg.