Faksimile

Text

8
14. Der Schleier der Beatrice box 20/4
Loschi, der hinwiederum zu viel reflektiert und vor lauter Reflexion
nicht zum Handeln kommt, ein Mann, dem Leben und der Wirklichkeit
fremd und fern. Und dessen Gegenstück wieder ist der Tatmensch, der
Herzog Bentivoglio, in dem Schnitzler den Typ des Renaissance=Menschen
zeichnen wollte, aber nur einen Mann der Kraftworte, nicht der Kraft
gezeichnet hat. Im Grunde ist Bentivoglio von markloser Reflexion,
ebenso angesteckt wie Filippo und wie Beatrice. Schnitzler kann nicht
aus seiner Haut; der Erotiker und Träumer wird nie ein Renaissance¬
Stück schreiben können. Das wird überhaupt einem Dichter unserer
Tage, der bestenfalls die Renaissance mit den Augen der Sehnsucht
sieht, aber nie mit ihr verwandt empfinden kann, nicht gelingen.
Und ebensowenig ist Adolf Wilbrandts Tragödie „Timandra“,
in deren Mittelpunkt die Gestalt des Sokrates steht, ein Bild antiken
Lebens. Timandra, die ihrem Gatten davonläuft, um als Mann ver¬
kleidet in der Nähe ihres geliebten Plato an einem Symposion teil¬
zunehmen und, als sie dort entdeckt wird, mit Plato durchgehen will, ge¬
berdet sich ganz wie die Heldin eines modernen Ehebruchsdramas. Sokrates
sieht für den oberflächlichen Beobachter vielleicht noch am ehesten aus
wie eine antike Gestalt, denn er ist reichlich mit authentischen Sprüchen,
die wir aus der Schule als sokratisch kennen, ausgestattet. In Wahr¬
heit aber ist dieser Sokrates überhaupt keine Gestalt im dichterischen
Sinne, und noch schemenhafter ist der Jüngling Plato. Auch den Ge¬
danken, den Prozeß des Sokrates durch die Rachsucht einer Frau zu
motivieren — Timandra haßt den Sokrates, weil er den Plato aus
ihren Armen befreit hat, und stachelt den Meletos durch das Ver¬
sprechen ihrer Gunst an, Sokrates bei den Heliasten zu verklagen —
auf diesen Gedanken ist Willbrandt in einer sehr unglücklichen
Stunde gekommen. Was ihn ursprünglich angezogen hat, dürfte der.
Tod des Sokrates sein, dessen milde Resignation dem Dichter sym¬
pathisch sein mußte; aber auch dieser Szene hat er als Dichter nichts
Wesentliches hinzugetan, und wenn sie wirkt, so wirkt sie durch sich
selbst.
Gustav Zieler.
Mit Erlaubnis des Verfassers und Verlegers entnehmen wir den Aufsatz:
„Wo liegt die neue Wahrheit?“ seinem bei Otto Janke, Berlin in 2. Auflage er¬
schienenen Werke „Überflüssige Herzensergießungen eines Ungläubigen“. Eine Be¬
sprechung wird in dem folgenden Hefte gebracht werden.
Die Redaktion.