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Kunst und Wissenschaft.
Literatur und Theater.
900
Leipziger Schauspielhaus.
Leipzig, 24. Mai. Gestern sahen wir hier das neue
Schauspiel Arthur Schnitzlers „Der Schleier der
Beatrice". Der Dichter wird zu den Vertretern der
Wiener Moderne gerechnet und hat in „Liebelei", „Frei¬
wild“ und einigen Einaktern soziale Schauspiele verfaßt,
welche die Signatur der modernen Richtung tragen. Sein
neuestes Drama aber liefert den Beweis, daß diese Richtung
jetzt nach allen Gegenden der Windrose aus einander fährt;
denn von „Naturalismus“, von sozialen Tendenzen, von einer
Kritik der gesellschaftlichen Zustände der Gegen¬
wart ist gar nicht mehr die Rede, auch nicht von
dem Symbolismus der Wiener Genossen Schnitzlers.
Wir bewegen uns ganz auf dem Boden der französischen
Romantik eines Victor Hugo, auf dem auch die „Monna
Vanna“ Maeterlincks steht; abenteuerliche, grelle, effektvoll
inscenierte Vorgänge, welche auf der Bühne frappieren, bei
denen aber von psychologischer Entwickelung wenig zu spüren
ist, dabei ein gänzlicher Abfall von der nüchternen, prosaischen
Dialogführung, eine Rückkehr zum dichterischen Stil, sodaß
auch in den „Schleier der Beatrice“ manche funkelnde
Juwelen desselben verwebt sind, während auf der anderen
Seite das Verschwommene und Schwülstige der ungesunden
Maeterlinckschen Dichtung nicht fehlt. Was bleibt denn da
von dem Credo der „Moderne“ übrig? Selbst die ver¬
ketzerten Monologe, die man in die Rumpelkammer der alt¬
fränkischen Dichtung geworfen, haben sich wieder eingeschlichen.
An die „Moderne“ erinnern höchstens einige ungenierte und
kecke Wendungen mit Bezug auf geschlechtlichen Verkehr,
einige flotte Demimonde=Damen und die nächtlichen Orgien,
die in den Salons und Gärten der belagerten Stadt ge¬
feiert werden.
Wir können es nicht leugnen — wir wurden durch die
Handlung lebhaft an „Eine tolle Nacht“ und an „Mamsell
Nitouche“ erinnert; denn was da in einer einzigen Nacht
geschieht —, diese Anhäufung ungewöhnlicher Abenteuer hat
das Schnitzlersche Stück mit jenen Posseu gemein. Wegen
eines Traumes sagt sich der eifersüchtige Dichter Philippo
Loschi von seiner Geliebten, der schönen Beatrice, der Tochter
des verrückten Wappenschneiders Nardi in Bologna, los oder
vielmehr sie verläßt ihn wegen seiner lächerlichen Eifersüchteleien,
und er hofft im Stillen auf ihre Rückkehr: doch sie verlobt
sich mit Vittorino Monaldi, der in der Werkstatt des alten
Vaters beschäftigt ist. Da soll ihr Traum in überraschender
Weise in Erfüllung gehen, sie hat ganz korrekt geträumt, was
sich nachher in der Wirklichkeit zuträgt. Der Herzog von
Bologna, Bentivoglio, hat Befehl erteilt, daß das schönste
Mädchen der Stadt in dieser Nacht zu ihm aufs Schloß
kommen soll. Da trifft er die bräutliche Beatrice; er ist
von ihren Reizen so entzückt, daß er sie gleich aufs Schloß mit¬
nehmen will. Sie hat zwar an sich nichts dagegen, sie hat's ja ge¬
träumt und sie denkt wie die „Schöne Helena“, das ist die
Hand des Verhängnisses! Ihr neben ihr stehender Bräutigam
geniert sie weiter nicht; doch sie macht ihre Bedingungen.
Des Waffenschmiedes Töchterlein tut es nicht unter einem
Herzogswappen, sie verlangt von dem Herzog, daß er sie
heirate, das ist ein wenig viel verlangt; doch der Herzog
besinnt sich nicht lange, er greift zu. Sofortige Trauung.
der Kardinal segnet das Brautpaar ein. Der arme
Bräutigam Vittorino findet sich in so erstaunlicher Weise
vernachlässigt, daß er es für das Beste hält, sich das Leben
zu nehmen. Während nun draußen vor den Toren Cesare
Borgia mit seinen Tausenden steht, derselbe Borgia, der mit
gekommen, außerdem noch mit grellen und etwas anstößigen
Episoden überladen, in ihren psychologischen Motivierungen
oft sehr unklar; aber an dichterischen Schönheiten fehlt es
dem Werke nicht, und es ist nur schade, daß diese Brillanten!
an einer so zerknüllten dramatischen Toilette hängen.
Frl. Irene Triesch, welche die Beatrice spielte, ist bis¬
her noch nie in Leipzig aufgetreten; es ist uns unmöglich, sie
nach einer einzigen Rolle, noch dazu in einem verfehlten
Stücke, zu beurteilen. Das Eine erschien uns zweifellos: sie
hat Temperament und weiß Affektstellen und Sensations¬
motive gut heraus zu arbeiten. Von ihrem Organ wird
sie dabei nicht sonderlich unterstützt; es hat keinen schönen
Vollklang, bisweilen eiwas Kreischendes. In der Seelen¬
malerei mag sie Anerkennenswertes leisten; das zeigte sich in
den beiden großen Scenen mit dem Dichter Filippo; doch im
ganzen bietet das Schauspiel wenig Anlaß dazu. Sie wurde
wiederholt hervorgerufen und lebhaft applaudiert. Vor¬
trefflich war der Herzog des Herrn Mauren, eine impulsive
Na##r wie fast alle Helden und Heldinnen des Stücken)
doch über die Klippen desselben, die Werbung auf
der Straße, welche an diejenige Richards III. erinnert,
glitt sein Spiel geschickt hinweg; er suchte nach einer Ver¬
mefung, welche der Dichter hier nicht gefunden, und half mit
andeutendem Spiele nach. Sehr schön sprach er die Schlu߬
rede. Herr Grevenberg als Filippo Loschi hat eine noch
schwierigere Aufgabe. Dieser Dichter mit einer etwas dunkeln,
gelegentlich in die Hanslung hereinplatzenden Vorgeschichte
gehört zu den schwankenden Gestalten, deren Genialität sich in
einem grillenhaften Wesen, in einem stürmischen Wechsel
der Empfindungen, in unausgeglichenen seelischen Kon¬
flikten zeigt. Herr Grevenberg stellte alle diese
Gefühlswallungen mit einem hin und her lodernden
Feuer dar. Den Francesco spielte Herr Vollmer mit der
frischen Tatkraft, welche diesem resoluten Schwestermörder
eigen ist; ergötzlich war der Manussi des Herrn Mehnert,
der etwas Humor in die grellen Vorgänge brachte. Der
Graf Andrea Fantuzzi des Herrn Eggeling zeigte in seiner
Hauptscene dramatische Energie. Erwahnen wollen wir noch aus
dem großen Personenverzeichnis, den halbölödsinnigen Wappen¬
schneider des Herrn Forsch, den diplomatischen Geheimschreiber
Cossini des Herrn Bornstedt, den charakterfesten Magnani
des Herrn Hofmann, die kecken Florentinerinnen der
Elisabet Kirch und Elisabet Anders, die tleine unter¬
nehmungslustige Marguerita der Julia Siegert, die demi¬
monderischen Bologneserinnen der Melitta Benda und
Marta Kolmar, die kupplerische alte Nardi der Katha¬
rina Winkler, die Rosina der Anny Lescinsky und die
Teresina der Alice de Fontelive, jene frisch und munter,
diese innerlich gebrochen; der Vittorino des Herrn Karl
Boettcher gab durch stummes Spiel die Eindrücke wieder,
die ihn zum Selbstmord trieben; eine gute Genrefigur war
der Capponi des Herrn Wirth, flott die jungen Bologneser
der Herren Favre und Bartholomé und der Musiker Dossi
des Herrn Wildenhain. Die Markiscenen des zweiten und
die Hofscenen des vierten Aktes waren von Herrn Egge¬
ling gut arrangiert — nur störten die allzulangen Zwischen¬
akte.
Rudolf von Gottschall.)