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Be
14: Der Schleier derätrice
Er wird — je nach seinem Temperamente belustigt, angeekelt oder
erschrocken — bemerken, dass das Theater zur et gimze“e eine Branche
geworden ist, die sich wie alle anderen bereits einen eigenen
Jargon geschaffen hat. Offeriere Ihnen harmloses Lustspiel -
durchschlagender Berliner Erfolgle Streng realistisches Schauspiel
mit glänzenden Kritiken!: so lauten noch die Angebote der
feineren Firmen; andere rühmen ihrer Ware wohl eine serhebend
sittliche Tendenze, rsichere Actschlüsses, estarke Schlagere nach.
Die Schauspieler bilden ihrerseits ebenfalls einen Markt, auf dem
eine Naive, die auch über echte Gemüthstöne verfügte, den
Directoren für nur hundertfünfzig Mark ihre Dienste anbietet.
Die meisten werden solche Offerten wohl für gar nicht auffällig
halten und damit beweisen, wie völlig ihnen die geschäftliche
Auffassung in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass der
Dramatiker und Darsteller nicht einem innerlichen Rufe folgt,
sondern einen äusserlichen Beruf ausübt. Wer anders denkt, ist
ein verschrobener Idealist, über den die Theaterpraktiker ver¬
ächtlich oder spöttisch die Achseln zucken; er mag in Revuen
einigen Berufscoilegen seinen Schmerz klagen, in unzulänglichen
Gründungen freier Bühnen- einigen Radaumachern Gelegenheit zu
Scandalen und der verruchten Gattung der -geistreichene Kritiker
den Anlass zu — wehe! wie witzigen — Feuilletons geben und,
wenn er in sich schöpferische Dränge spürt, Buchdramen schreiben,
die niemand, in des Wortes wörtlichstem Sinne niemand, liest.
Gehen auf diese Weise auch der Bühne die echtesten und ehr¬
lichsten Begabungen zugrunde, weil sie, erbittert über ihre Er¬
folglosigkeit und die Erfolge der Seichten und Halben, den aus¬
sichtslosen Kampf aufgeben — was liegt daran? Wenn die
Directoren nur die soliden, erprobten Lieferanten haben, so
werden sie den Theateragenten mit ihrer Kundschaft nicht
weitergehen, und die ebenso zahlungsfähige als gefühlsunfähige
Menge wird gerne den tüchtigen Amüseuren die drei Stunden
Unterhaltung nach wie vor abkaufen. Deshalb ist lbsens schier
Junausschöpflich tiefes Lebenswerk fast durchaus Buchdrama
geblieben — die paar Aufführungen zählen ja nicht mit — des¬
halb muss das gelungenste und grosszügigste Drama der letzten
Zeit, Schnitzlers mächtiges Renaissancewerk -Der Schleier der
Beatrices, unaufgeführt bleiben. Es fällt schwer, weitere Namen
als Beispiele hier anzuführen; denn da diese Autoren nie in die Sonne
des Erfolges getreten sind, sondern ihre Werke im Dunkel nie ge¬
öffneter Pulte ruhen, so weiss niemand etwas von ihnen. Aber solche
denn so arm kann Deutschland trotz der
Dichter leben
nicht plötzlich geworden sein, dass Rein¬
Geldherrschaft
heit, Echtheit und Grösse plötzlich ausgestorben wären
und gehen einsam, verlassen und unbekannt ihren Weg;
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