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14. Der Schleier deratrice
an Revolution, und um dieses Manko auszugleichen, hätte die Regie be¬
feuern, nicht, wie es den Anschein hatte, zügeln müssen.
Regie ist alles, und je machtvoller Reinhardts Prinzipien sich durch¬
setzen, desto unzulässiger werden uns die Gastspiele einzelner noch so großer
Schauspieler vorkommen. Welch ein Genuß müßte es sein, Kainzens Mare Anton
wieder einmal in einem Ensemble zu sehen, das, wenigstens in dieser einen Vor¬
stellung, mit ihm, mit dieser seiner Gestalt aufgewachsen wäre! Wenn er sich nach¬
träglich, mit ungenügenden Proben, einem Ensemble einfügt, erhöht es die Freude
nicht im geringsten, daß er es ohne eine Spur von Wandervirtuosentum
tut. Wir wollen ein Drama; als ganzes so verstanden und dargestellt, wie
dieser eine seinen Part versteht und darstellt. Es ist ein Irrtum, den Marc
Anton, weil er der römischen Geschichte angehört, als einen impulsiven,
eruptiven Italiener aufzufassen. Er ist, in Shakespeares Drama, Geist
von Shakespeares Geist, und dieser Geist ist düster, hart und grau. Das
sind denn auch die Grundzüge des Kainzschen Marc Anton, ohne daß darum
der künstlerische Ausdruck, den dies Wesen findet, mit den gleichen Attributen
zu belegen wäre. Kainz hat gleichsam für das Gesicht eines planvollen,
mißtrauischen, unbedenklichen Tatsachenmenschen germanischen Schlages allen
Glanz und alle Schmiegsamkeit romanischen Geblüts als Maske. Die
Maske ohne das Gesicht wäre eine physische Unmöglichkeit; aber das Ge¬
sicht ohne die Maske würde das politische Ziel nicht erreichen. Bei
Kainz paßt eins aufs andre. Er erfüllt damit in einem höhern Sinne
Nietzsches Vorschrift für die Bühne: Was als wahr wirken soll, darf nicht
wahr sein. Diese Einsicht hat den Marc Anton zum radikalen Zyniker
gemacht. Das ist der große Fortschritt der neuen Gestaltung über die alte,
die noch viel zu viel ehrliches Gefühl zeigte. Früber gab es im Senat
und auf dem Forum rhetorische Prunkstücke, an denen nicht nur, selbst¬
verständlich, die Redekunst, sondern auch das Doppelspiel von Schmerz
und beuchlerischer Bezähmung des Schmerzes, vor allem aber die Charakter¬
entwicktung zu bewundern war. Marc Anton wurde durch Caesars
Ermordung aus einem Jüngling ein Mann. Das ist zwölf Jahre her.
Jetzt hat Kainzens Römer keine umwälzenden Erlebnisse mehr zu befahren.
Jetzt ist er von Anfang an, reif, überreif. Jetzt schreit aus diesem Rat¬
politiker nichts als eine grenzenlose Menschenverachtung. Er hat zwei
Gelegenheiten, sie zu erproben, und daß sie sich beide Male, an Hoch und
an Niedrig, bewährt, kann ihre Kraft nur verstärken. Man möchte glauben,
daß die Erlebnisse einer Dramengestalt einen Schauspieler für andre Ge¬
stalten reif machen. Bis zu diesem Marc Anton habe ich mir nicht vor¬
stellen können, daß neben Matkowsky ein Coriolan möglich sei. Jetzt sehe
ich Kainzens Coriolan mit Begierde entgegen.
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