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Reigen
Mitten durch die Lust, die Ausschweifung, den betäubenden
ton.
Rhythmus des Reigens geht jeder nur verloren seinen „Ein¬
samen Weg“ Alle Straßen des Lebens, denen Artur Schnitzler
je nachgespürt, sind letzten Endes stets der gleiche einsame Weg;
ob er nun auf seltsam traumhafte, farbig schimmernde Märchen,
Dreigen“.
auf längst verwehte Zeiten auszog, ob er als Arzt dem lang¬
h Kammerspielen.
samen Verströmen eines menschlichen Organismus horchte,
r Soldat und das Stuben¬
oder ob er tief in die alltäglichste, banalste Bürgerlichkeit hinab¬
der junge Herr; der junge
tauchte. Von allen ungelösten Rätseln bleibt im letzten, über¬
verheiratete Frau und der
wachen Augenblick immer nur der letzte Traum zurück, der
sidel; das süße Mädel und
Traum, den kein Tag mit sich führt, die letzte, leise Melodie,
Schauspielerin; die Schau¬
die keine Stimme der Wirklichkeit je singt, und dann noch ein
und wieder die Dirne: so
wenig Sehnsucht, die, geduldig und verborgen in einem Winkel,
lingen atemlos den Reigen
nie zur Erfüllung reift.
eSpiel des Fleisches führt
Und inzwischen geht das süße Spiel weiter: der Reigen
Etten noch in ihren festen,
schließt sich, löst sich, schließt sich wieder.
wieder, und jedes bleibt
So, von einer gewissen Perspektive aus betrachtet, versinkt
kindlich.
Lügenglanz und Flittergold, und aus dem taumelnden Reigen
Veben prellen lassen; so
wird die traurige Synthese alles Seins: ein fahler, gespensti¬
scher
ich immer von neuem nach
Totentanz, dürr raschelnd im welken Laub des Gewesenen.
sigerisch entgegenstrecken in
Indessen Graf, Dirne, Dichter, Schauspielerin sich zum
Bald ist es eine heisere
Reigen zusammenfanden, ging mir eine kleine Anekdote aus
zender Kavallerieuniform
dem unseligen Leben Baudelaires durch den Kopf: wie der
in armer Komödiant von
arme, so berühmte Dichter eines Nachts in dem turbulent wüsten
sbedingungen, der Beruf,
Kasino in der Rue Cadet dem aufgeräumten, sehr weltlichen
irz: was tun die inneren
Abbé Monselet begegnete, wie dieser erstaunt fragte: „Baude¬
als zur Sache! Es will
laire, was machen denn Sie hier:, und wie Baudelaire den
n; und doch bleibt keiner
verständnislos erstaunten Kleriker zur Antwort gab: „Ich lasse
lichen Praterau und nicht
Totenköpfe an mir vorüberziehen.“
en Boudoir, der nicht mit
in die Kränze aller holden
Bei aller Verehrung für die lautere künstlerische Ge¬
hätte. Die einen sind er¬
sinnung, für den Ernst Artur Schnitzlers, bei aller Be¬
Klugen lächeln resigniert:
wunderung für die psychologische Schärfe und geistige Anmut
die gleiche große Ent¬
zugleich, mit der er selb in den heikelsten Augenblicken — wenn
daß es kein menschliches
sie oben auf der Bühne das Licht ausschalten — durch das allzu
her von uns versiegelt in
Menschliche ins rein Menschliche zu dringen versteht: doch eben
genannten „Freuden des
deswegen muß man es bedauern, daß Schnitzler seine Zu¬
Ekel und Bitterkeit auf
stimmung zu einer Aufführung des „Reigen“ gegeben hat.
Früchten, in denen der
Denn vor Schnitzlers Kunstwerk
lassen wir
an eingeschlossen. uns durch keine offiziell ausgestellten Befähigungs¬
atteste täuschen — wird an vielen Abenden ahnungs¬
los und lüstern die gleiche Menge sitzen, die sich in
Webekinds „Schloß Wetterstein“ zwei Akte hindurch
tapfer langweilte oder aber erst nach dem zweiten Akt ins
Theater kam, um endlich im dritten die sexualpathologische
Exhibition eines unerschrockenen Schauspielers behaglich ge¬
nießen zu dürfen. Was Wedekind in seinem Stück und Schnitzler
in seinen losen Miniaturen an feinen und tiefen Worten sagen,
das bleibt für die meisten, die triefend vor Vergnügen vor der
erleuchteten Rampe sitzen, nur überflüssige oder höchstens mi߬
verstandene Begleitung zu einer erotischen Pantomime; nur
der Reigen um den bewußten Augenblick, da es auf der Bühne
dunkel wird. Nach dem Tanz tagsüber um das goldene Kalb
für die, die darin ein Schwein gehabt, abends der Tanz um
letzteres Tier. Wie seinerzeit bei Homer der schönen Circe, so
gelingt es auch dem weniger anziehenden, dafür mehr
zahlungsfähigen Publikum von heute, selbst einen Dichter wie
Schnitzler in ein Schwein zu verwandeln.
Das Mißverständnis beginnt schon bei den Mitwirkenden
die geschickte Regie (Herr Schulbaur) winkt zwar überall.
wo es Zensur und Moral verlangen, aufgeregt mit dem Zaun¬
pfahl ab, dafür aber bleiben auch die sanftesten, funkelndsten
Dialogpointen des spöttischen Skeptikers, vielleicht auch
Zynikers Schnitzler im Dunkel. Besonders Herr Wengraf,
Herr Ziegler und Herr Iwald begnügen sich damit, ganz
oberflächlich mit dem Pinsel statt mit der Radiernadel zu
arbeiten. Nur Herr Lackner als brillanter Kapallerie=Graf
auf Urlaub schreitet gewissermaßen mit einer schneeweißen, er¬
götzlich=rührenden Unschuld durch dus Großstadtlaster. Ohne zu
stören, fügt sich auch Herr Sima (Soldat) mit Fräulein
Markus (Dirne) in den Reigen ein. Ausgezeichnet ist diesmal
Frau Carlsen; das süße Mädel kann man sich kaum anders
und von wem andern dargestellt denken als von Fräulein
Keller. Und als Schauspielerin versteht es Fräulein Marietta
Olly so fabelhaft, die einzigartig penetrante Atmosphäre des
„Theaters“ schon in ihrer Kleidung mitzubringen, daß man das
Theater völlig vergißt. Eine prachtvolle Studie.
Dr. Moriz Scheper.